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Was heißt eigentlich „Solidarität“?

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Von: Natascha Strobl

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Es geht um mehr als nur persönliche Beziehungen.
Es geht um mehr als nur persönliche Beziehungen. © Getty Images/iStockphoto

Als moralische Tugend wird sie stets hochgehalten, aber was ist darunter zu verstehen - gerade in Zeiten zahlreicher Krisen? Autorin Natascha Strobl nähert sich den Ursprüngen des Begriffs in ihrem gleichnamigen Essay. Ein Textauszug

Solidarität zu definieren ist schwierig, da der Begriff im Alltagsgebrauch höchst unterschiedlich eingesetzt wird. Solidarität ist da oft irgendwo zwischen Nettsein und Gutsein angesiedelt. Aber Solidarität ist keine individuelle Tugend, die man vor sich hertragen kann. Um das zu erkennen, muss man nicht weit in die Geschichte zurückblicken. „Solidarität“ wurde im 19. Jahrhundert zum moralischen Grundbegriff und Wert der Arbeiter:innenbewegung.

Dabei ist die „Grundlage der Solidarität der Arbeiterschaft ihre soziale Nähe“. Diese Art der Solidarität, die aus geteilten Lebensumständen in einer traditionellen Gesellschaft resultiert, nannte der Soziologe Émile Durkheim „mechanische Solidarität“, während er für die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft von „organischer Solidarität“ spricht. Der Begriff wurde für die Arbeiter:innenbewegung schließlich zum Kulturgut. Davon zeugen Lieder wie das „Solidaritätslied“, das 1931 von Bert Brecht geschrieben und dann von Hanns Eisler vertont wurde. In Anbetracht von Hunger, Wirtschaftskrise und politischen Unruhen mahnt es in jeder Lebenslage („beim Hungern und beim Essen“) die Solidarität der Arbeiter:innen untereinander ein. Das 1915 geschriebene Gewerkschaftslied „Solidarity Forever“ (dessen bekannteste Version jene von Pete Seeger ist) betont die Kraft des Zusammenstehens ebenfalls: „Yet what force on earth is weaker than the feeble strength of one, / But the union makes us strong.“

Die Idee dahinter ist klar: Eine einzelne Person kann nichts erreichen, sie muss sich mit anderen zusammentun, um ein gemeinsames Ziel in Angriff zu nehmen. Organisierung und Zusammenschluss sind der Kern der Idee der Arbeiter:innenbewegung. Andere Klassen und gesellschaftliche Fraktionen können sich auf andere Art und Weise durchsetzen. Der Adel und die Monarchie können sich mit der Berufung auf religiöse und dynastische Vorhersehung durchsetzen.

Eine angeblich gottgegebene gesellschaftliche Hierarchie, deren Störung ein Akt des Widerstands gegen Gott wäre. Dieses gottgegebene Recht setzt man zur Not auch mit (Privat-)Armeen und absolutistischer Macht durch. Mit der Ablösung der Monarchien durch bürgerliche Nationalstaaten und dem Aufbegehren der bürgerlichen Klasse gegen die absolute Macht des Adels etablierte sich nicht nur ein neues Wirtschaftssystem, sondern auch eine neue Art der Interessensdurchsetzung.

Die bürgerliche Klasse setzte auf Demokratisierung und das Aushandeln von Interessen in öffentlichen Debatten und Räumen. Es zählte unternehmerische und rhetorische Begabung, um den eigenen Standpunkt zu vertreten. Wer wirtschaftlich erfolgreich ist, hat im Kapitalismus recht. Der klitzekleine Schönheitsfehler an diesem Ideal war, dass dem Proletariat und Frauen der Zugang zu dieser Art der Interessensdurchsetzung lange verwehrt blieb. Der Kapitalismus braucht jedoch jene Menschen, die den Mehrwert schaffen – das Proletariat. Das bedeutet nicht, dass es keine positive Art der Beziehung zwischen (bürgerlichen) Unternehmer:innen und Arbeiter:innen gab. Sie waren und sind aber vonseiten der Unternehmer:innen von Mildtätigkeit und Wohltätigkeit geprägt.

Die Entscheidungsmacht zur Linderung von Elend und Leid liegt hier immer noch bei der einzelnen gebenden Person. Die organisierte Arbeiter:innenklasse musste wiederum andere Wege finden, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie konnte das nicht im dynastischen Verbund und auch nicht mit Hilfe des Ideals des einzelnen, begabten Individuums tun. Die Stärke der Arbeiter:innenklasse lag in ihrer schieren Zahl. Die einzelnen Arbeiter:innen hatten weder Mittel noch Ansehen, um innerhalb der Gesellschaft etwas zu bewirken. Diese Quantität musste aber organisiert werden. So bildeten sich Vereine, Parteien, Organisationen und Gewerkschaften heraus, oft konkurrierend, oft mit unterschiedlichen Ansätzen, oft mit unterschiedlichem Fokus. Aber der Grundgedanke war immer, eine Mehrheit jener zu organisieren, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Interessen durchzusetzen, als im Zusammenschluss mit anderen. Der verbindende Gedanke dieses Zusammenschlusses war und ist die Solidarität.

Die Solidarität gilt dem gemeinsamen Ziel und dem Wissen, dass es um Mehrheiten geht. Man darf sich also nicht auseinanderdividieren und aufspalten lassen. Nebenbei sei erwähnt, dass diese Zusammenschlüsse selbstverständlich auch Ausschlüsse innerhalb des Proletariats produziert haben, was bereits die proletarische Frauenbewegung unmittelbar kritisierte.

Der solidarische Gedanke liegt also zum einen in der sehr konkreten und praktischen Erkenntnis, dass man als Individuum nicht zu jener gesellschaftlichen Klasse gehört, die qua Familie, Religion oder Vermögen politisch Einfluss nehmen und Interessen vertreten bzw. durchsetzen kann. Solidarität ist also nicht nur ein Ideal oder eine moralische Tugend, sondern zunächst eine konkrete, praktische Strategie der Interessensdurchsetzung.

Zum anderen ist Solidarität keine persönliche Beziehung zwischen zwei Menschen, wie es vielleicht verwandte Begriffe wie Zuneigung, Liebe, Wertschätzung oder persönliche Loyalität sind. Das bedeutet, man kann mit Leuten solidarisch sein, ohne sie unmittelbar als Menschen mögen oder gar wertschätzen zu müssen. Solidarität ist die Erkenntnis, dass einen aufgrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten einer geteilten Klassenzugehörigkeit mit einer anderen Person mehr verbindet als von ihr trennt. Solidarität ist also pragmatische Erkenntnis und radikale Praxis zugleich. Denn wenn man nur einander und sonst nichts hat, dann muss man zusammenstehen und darf sich nicht einzelne Personen aus der Gruppe rauskegeln lassen.

Jeder Streik zeigt diese angewandte Solidarität sehr gut. Egal, wie gut man sich persönlich mit jemand anderem versteht oder auch nicht, man tut sich zusammen, um gemeinsam etwas durchzusetzen. Dafür steht man zusammen und lässt nicht zu, dass Einzelne Nachteile haben. Die Gefahren bei so einer klaren Haltung sind einerseits, die Reihen allzu undurchlässig zu machen, also zu wenig Impulse von außen zuzulassen, dabei Kritik als Verrat zu verstehen und eigenes Fehlverhalten zu banalisieren und zu verdecken. Jede straff geführte Organisation kennt diese Dynamiken.

Organisatorisch gibt es zum Glück mittlerweile viele Möglichkeiten, das auszugleichen. Die Kunst in der praktischen Solidarität liegt also darin, eine Form zu finden, die nach außen durchlässig ist und sich neuen Impulsen stellt und gleichzeitig nach innen nicht beliebig wird. Das trifft besonders dann zu, wenn es nicht mehr um die klassischen Kaderorganisationen geht, wie es im 20. Jahrhundert lange Zeit der Fall war. (Ergänzend sei hier erwähnt, dass etwa auch anarchistische Organisationen eine ebenso lange Tradition in der Arbeiter:innenbewegung haben.) Zu Beginn der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts haben wir es mit vielfältigen Formen der Organisierung zu tun. Die Kaderorganisationen und -parteien sind nicht verschwunden, sie wurden aber (oft in einem Spannungsverhältnis) ergänzt von NGOs, basisdemokratischen Organisationen, politischen Kleingruppen und Freundeskreisen.

Natascha Strobl: Solidarität. Übermorgen Essays. Kremayr & Scheriau Verlag, 2023. 104 Seiten, 20 Euro.
Natascha Strobl: Solidarität. Übermorgen Essays. Kremayr & Scheriau Verlag, 2023. 104 Seiten, 20 Euro. © Kremayr & Scheriau Verlag

Neuere Formen der Organisierung entstehen entlang von Social-Media-Plattformen und tragen den netzwerkartigen Community-Gedanken in sich. Diese Art der Organisierung ist viel loser und unverbindlicher, hat aber große Reichweite. Dabei spielen einzelne Influencer:innen eine wichtige Rolle. Die (formal-) demokratische Wahl, Funktionsbesetzung und das Abstimmen von Positionen werden hier durch Debatte und Netzwerk-Strukturen ersetzt. Diese unterschiedlichen Formen von Organisierung und Themensetzung können und müssen neue Wege finden, wie Solidarität möglich ist – und das tun sehr viele von ihnen auch längst, wie der Abschnitt „Beispiele für praktische Solidarität in der Gegenwart“ in diesem Buch zeigt.

Selbstverständlich bieten diese neuen (informellen) Strukturen viele Möglichkeiten. Dazu gehören die Niederschwelligkeit und der unmittelbare Einfluss, den einzelne Personen erfahren können. Selbstwirksamkeit ist in starr gewordenen Kaderorganisationen keine Selbstverständlichkeit mehr. Diese Selbstwirksamkeit kann vor allem sehr spezifisch themenbezogen erfahren werden. Solch eine Spezialisierung ist gut und bedient die eigenen Interessen, für die man brennt, unmittelbar. Diese Art der Spezialisierung hat sich schon in zivilgesellschaftlichen Organisationen gezeigt.

Die Organisierung über Sprach- und Ländergrenzen hinweg bedeutet oft aber noch eine detailreichere Ausdifferenzierung. Andererseits hatten und haben Gewerkschaften, Parteien und große Organisationen in ihren positiven Funktionen immer auch eine Verbindung von vielen Themen ausgemacht. War oder ist man Teil einer solchen Organisation, war man auch immer gezwungen, sich mit Themen und Anliegen auseinanderzusetzen, die einen nicht unmittelbar betroffen oder interessiert haben. Im formal strukturierten Austausch innerhalb der Organisation war die solidarische Klammer (zumindest als Ideal) angelegt.

Es geht also zu Beginn der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts gar nicht darum, die eine Organisationsform gegen die andere auszuspielen. Die Unterschiede sind nun mal vorhanden. Die Frage ist, wie man einen Umgang miteinander findet. Denn es ist meine Überzeugung, dass es eine Form des Umgangs braucht, um eine solidarische Zukunft möglich zu machen. Es gibt also viele Personen und Organisationen, die bereits an der besseren Welt konkret arbeiten. Die Klammer für dieses Tun kann Solidarität sein. Solidarität ist somit nicht bloße Mildtätigkeit oder Charity. Es geht nicht nur darum, das Elend zu lindern, sondern die Bedingungen für Elend zu verunmöglichen.

In einer solidarischen Haltung passiert dies auf Augenhöhe, weil man erkennt, dass man nichts hat außer einander. Die Basis der Solidarität ist das gegenseitige Vertrauen. Das kann formal hergestellt werden, etwa mit Mitgliedschaften in derselben Organisation. Besteht diese formale Absicherung nicht, so muss das Vertrauen in der praktischen (Zusammen-)Arbeit immer wieder neu hergestellt werden. Diese (fluiden) Mehrheiten zu organisieren ist in Anbetracht der Krisen eine der wichtigsten Aufgaben.

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