Was hat Lenin, was Kohl nicht hat?
Vielleicht ist nicht zuletzt Adolf Hitler dafür verantwortlich, dass sich die Deutschen wenig anfreunden können mit der Idee, einzelnen Personen eine herausgehobene Bedeutung in der Politik beizumessen. Der Führerkult im „Dritten Reich“, die bedingungslose Hinwendung zu einer – pathologisch verkorksten – Person musste nach Sichtbarwerdung des Desasters, das dieser Mann und seine Komplizen angerichtet hatten, zu einer Umwertung führen:
In der Nachkriegszeit war die politische Biografie verdächtig, das Systemische und Strukturelle zu vernachlässigen. Personalisierungen wurden mehr oder minder in den Polit-Boulevard geschoben.
Der britische Star-Historiker Ian Kershaw (Bild), dessen zweibändige Hitler-Biografie ein Standardwerk ist, greift dieses Versäumnis in seinem Buch „Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer im 20. Jahrhundert“ frontal an. Seine These: „Es gibt politische Führer, Demokraten wie Diktatoren, […] die augenscheinlich tiefe Spuren in der Geschichte hinterlassen.“ Ob Freund oder Feind, Kershaws breite, vielleicht zu breite Definition führt zu einer Liste an Persönlichkeiten, die etwas wahllos wirkt: von Lenin zu Stalin, von Mussolini zu Hitler, von Churchill zu De Gaulle und Adenauer, von Franco zu Tito, von Thatcher bis Kohl (also nur eine Frau!).
Bei Gorbatschow, dem Zerstörer der Sowjetunion und (unfreiwilligen) Schöpfer eines neuen Europas, ist das Konzept sofort ersichtlich. Auch andere Beispiele, wenn auch höchst zerstörerische, sind gut gewählt, aber natürlich nicht überraschend: Stalins Gewaltorgien wirken bis heute nach. Gut möglich, dass Kershaw in diesem Jahr auch noch ein Porträt Wladimir Putins ergänzen würde. Tito hat kraft seiner Persönlichkeit ein wackliges Gebilde wie Jugoslawien zusammengehalten und sich zum Anführer blockfreier Staaten gemacht, ein Diktator, der nicht die Brutalität eines Stalins hatte, aber auch nicht zögerte, Menschen auszuschalten.
So nachvollziehbar diese Namen in das Persönlichkeitskonzept Kershaws passen, wird das Eis bei anderen prominenten – und sicherlich auf ihre Art auch wirkmächtigen – Staats- und Regierungschefs spürbar dünner. Inwieweit soll der spanische Diktator Franco in diese Reihe passen, dessen Rolle sogar im Zweiten Weltkrieg regional einigermaßen begrenzt war? Oder Thatcher, ja selbst Kohl? Thatcher war charismatisch und hat Großbritannien fast zu Tode privatisieren lassen. Der langjährige Bundeskanzler hat zu Wendezeiten sicherlich bahnbrechende Entscheidungen getroffen, war ansonsten aber ein sehr durchschnittlicher Regierungschef. Was hebt sie von Willy Brandt und Tony Blair ab?
Kershaw würde die Frage bei Kohl wohl so beantworten: Der Pfälzer hat es geschafft, durch seine volkstümliche Art (Saumagen und Urlaub am Wolfgangsee) Kontakte und sogar politische Vertrautheiten zu wecken, die Politik erleichtert haben – mit Mitterrand, Gorbatschow, Bush Senior und Clinton. Was bei ihnen funktioniert hat, hat Thatcher allerdings zutiefst abgestoßen. Die Frage wäre also auch zu stellen: Welche Grenze hatte Kohls „Talent“, wo hat es sogar geschadet, und wird es wirklich langfristig Eindruck hinterlassen? Wäre es nicht Kershaw, hätte man solche Ungereimtheiten einem angehenden Politikwissenschaftler oder einer Politikwissenschaftlerin wohl um die Ohren gehauen.
So aber sehen wir es nicht zu eng – und genießen eine in vielerlei Hinsicht trotzdem anregende Lektüre. Zumal mit Blick auf latent gefährliche Persönlichkeiten wie, außer Putin, Donald Trump, Jair Bolsonaro, Rodrigo Duterte, Kim Jong Un oder Xi Jinping . Auf das Buch über diese Figuren wird man noch gespannter sein.
Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert. DVA. München, 2022. 592 Seiten, 36 Euro.