Warum in Israel gerade alte Konflikte aufbrechen

Der Staat Israel feiert in dieser Woche seinen 75. Geburtstag, und das ganze Land trägt blau-weiß. Alle wissen jedoch: Es fühlt sich irgendwie anders an.
„Kauf zwei, nimm eines gratis dazu!“ - Ein Händler auf Jerusalems Machane Jehuda-Markt preist seine neue Handy-Schutzhüllen-Kollektion an: Weißes Plastik, bedruckt mit Israels Flagge. Sonnenbrillen, Luftballons und Plastikteller, alles in Israels Nationalfarben– der Shop ist voll mit zionistischem Merchandise. Der Staat Israel feiert in dieser Woche seinen 75. Geburtstag, und das ganze Land trägt blau-weiß. Alle wissen jedoch: Es fühlt sich irgendwie anders an.
Vor wenigen Monaten begann Israels Flagge ihren Charakter zu ändern. Die riesige Protestbewegung gegen die ultrarechte Regierung unter Benjamin Netanjahu hat sich die Fahne angeeignet und sie zum zentralen Symbol ihrer Bewegung gemacht. Jede Demonstration gleicht nun einem Flaggenmeer.
Gegner der Proteste in Israel: „Auch die Mehrheit muss geschützt werden“
Die Demonstrant:innen, die den Staat Israel vor seiner Regierung beschützen wollen, benutzen also dasselbe Symbol, das auch die Polizist:innen auf der Brust tragen, wenn sie mit Wasserwerfern gegen die Protestierenden vorgehen. Nichts verdeutlicht besser, wie zerrissen dieses Land ist, als die Flagge, die eigentlich alle miteinander vereinen sollte. Nur sieben Wochen ist es her, da warnte Israels Staatspräsident Itzchak Herzog vor einem drohenden Bürgerkrieg. „Der Abgrund ist zum Greifen nah“, sagte Herzog. Wie konnte es so weit kommen?
Nurit, 53 Jahre, Pädagogin aus Tel Aviv, muss nicht lange nachdenken. „Sie vernichten das Land, das unsere Eltern und Großeltern aufgebaut haben“, sagt die selbsterklärte Linke. „Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, aber diese Regierung will sie zerstören.“ Sollte die Regierung nach den Feiertagen mit ihren Plänen zur Abschaffung der Gewaltenteilung fortsetzen, „dann werden wir erneut die Autobahn blockieren“, sagt Nurit. „Nicht, weil wir Autofahrer hassen, sondern weil wir Demokratie lieben.“
Die Demokratie liegt auch Emmanuel am Herzen. Der Netanjahu-Wähler aus Haifa stellt sich darunter aber etwas anderes vor. „Die Demonstranten sagen, Demokratie soll die Minderheiten schützen. Ich sage: Auch die Mehrheit muss geschützt werden.“ Emmanuel hält es für schäbig, dass die Proteste schon bald nach der Regierungsbildung einsetzten. Natürlich sei es legal zu demonstrieren, „aber es ist auch legal, in einem vollbesetzten Aufzug zu furzen. Ist es höflich? Nein!“
Als er Kind war, wurde Israel links regiert. Als er erstmals wählen durfte, wählte er links. Dann kamen die 1990er, die Osloer Verträge, der entsetzliche Terror in der zweiten Intifada. Heute wisse er: „Die Araber wollen keinen Frieden, die Zwei-Staaten-Lösung interessiert sie nicht. Sie wollen das ganze Land, vom Jordan bis zum Mittelmeer.“ Die Linke sei „zu naiv und zu scheinheilig, um das zu verstehen“, glaubt er. „Sie denken, wir geben einfach die besetzten Gebiete her, dann essen wir Hummus in Ramallah und die Araber werden uns lieben.“
Proteste in Israel: Konflikte prägen den Staat seit der Gründung
Während Emmanuel von Linken und Palästinenser:innen spricht, ist die Protestwelle weder eine rein linke noch eine Anti-Besatzungs-Bewegung. Armeeoffiziere demonstrieren mit, selbst im Westjordanland gibt es Proteste. Aus der Sicht des Regierungslagers sind die Demonstrant:innen jedoch eine uniforme, linke Masse. Und auch unter den Demonstrant:innen gibt es jene, die in den Anhänger:innen des Koalitionslagers geblendete, vordemokratische Finsterlinge sehen. Der Riss in Israels Gesellschaft ist auch Produkt dieses Schwarz-Weiß-Denkens.
Konflikte prägen Israel schon seit seiner Gründung. Schon damals standen Religiöse und Säkulare einander gegenüber. Streng-Religiöse sahen Israel als geschützen Raum, in dem sie sich keiner anderen Autorität unterwerfen müssen als Gott. Säkulare hielten liberale Werte hoch, zu denen sie auch das Freisein von religiösen Zwängen zählen. Dazu kam die Kluft zwischen den europastämmigen aschkenasischen Jüd:innen, die Ober- und Mittelschicht dominierten, und den vielfach diskriminierten sephardischen Juden. All diese Konflikte köchelten unter der Oberfläche, immer wieder brachen sie aus, ebbten wieder ab. Nun aber haben sich die Fragmente zu zwei geballten Kräften kondensiert.
Emmanuels Vorfahren kommen aus Polen und Deutschland, seine halbe Familie wurde von den Nazis ermordet. Heute fürchtet er, dass ein Regime, das den Schutz von Minderheiten in Israel hochhält, dies auf Kosten der Mehrheit tun könnte. „Was, wenn der Oberste Gerichtshof plötzlich beschließt, dass das Recht aller Juden in der Welt auf Rückkehr nach Israel rassistisch ist – wer kann uns Juden dann noch beschützen?“, fragt er. Es ist eine rhetorische Frage. Und seine Antwort ist: Netanjahu. (Maria Sterkl)