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Warum die ersten 100 Tage von Chiles Linkspräsident zur Feuertaufe wurden

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Von: Klaus Ehringfeld

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Und noch ein Gruß nach links: Gabriel Boric beim Gipfeltreffen der Amerikas in Kalifornien Anfang Juni. Foto: Frederic J. Brown/AFP.
Und noch ein Gruß nach links: Gabriel Boric beim Gipfeltreffen der Amerikas in Kalifornien Anfang Juni. Foto: Frederic J. Brown/AFP. © Frederic J. Brown/AFP

Der junge, linke Präsident Gabriel Boric trägt in Chile seit seinem Antritt einen Rucksack an Problemen und Herausforderungen mit sich – mit einer Rede ans Volk versucht er die Wende.

Der Wendepunkt in diesen turbulenten ersten drei Regierungsmonaten war dann ein ganz und gar staatstragendes Ereignis. Eine Rede an die Nation, live in alle Wohnzimmer Chiles übertragen. Anfang des Monats sprach Gabriel Boric zum ersten Mal als Staatschef vor dem Kongress in der Hafenstadt Valparaíso. Er trug einen dunkelblauen Anzug und die Präsidentenschärpe. Aber wie immer kam er ohne Krawatte.

Der junge Linkspräsident, seit dem 11. März im Amt, trug aber einen Rucksack an Problemen und Herausforderungen vor allem bei den Themen Sicherheit und Wirtschaft mit sich. Und daheim hörten die Chileninnen und Chilenen aufmerksam zu, was er zu den ersten aufreibenden Wochen und Monaten zu sagen hatte, in denen seine Popularität auf 36 Prozent gefallen war.

„Boric hat in einem komplizierten Szenario übernommen, das in Chile so noch keine Regierung vorher hatte“, sagt Camila Miranda, Direktorin des Thinktanks „Fundación Nodo XXI“. Die neue Regierung habe „keine Schonfrist, keine Einarbeitungszeit“ bekommen. „Von heute auf morgen mussten rasch wichtige Entscheidungen getroffen werden“, unterstreicht Miranda. Da seien Fehler nicht ausgeblieben.

Gabriel Boric in Chile: Wenig politische Erfahrung

Tatsächlich waren die ersten 100 Tage für diese erste linke Regierung seit Salvador Allende 1970 eine Feuertaufe, ein hartes Ankommen in der Realität des Regierens. Die Ministerinnen und Minister brachten vor allem Enthusiasmus, Leidenschaft sowie Gestaltungs- und Veränderungswillen mit. Aber wenig politische Erfahrung. Dabei führen Boric und sein Kabinett die viertgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas, ein kleines Land mit großem Selbstbewusstsein und vielen international erfolgreichen Unternehmen.

Aber Chile ist auch ein Land mit mindestens so vielen Problemen, einer Post-Pandemie-Wirtschaftskrise, steigender Armut und Menschen, denen es am Nötigsten fehlt. Dazu hat sich die neue Regierung im Nachgang des Aufstands von 2019 nicht weniger als den Umbau des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu einer sozialen Marktwirtschaft nach europäischem Vorbild vorgenommen. An so einer Aufgabe scheitern auch erfahrene Regierungen in leichteren Zeiten.

Gabriel Boric in Chile: Konflikte auf offener Straße

Boric’ Rede vor dem Kongress dauerte zwei Stunden und 20 Minuten, in denen er versuchte, dem Land den Optimismus zurückzugeben, den es verloren hat. „Vertrauen und Zuversicht müssen über Pessimismus und Miesmacherei siegen“, verlangte Boric unter Beifall.

Der 36-Jährige und seine im Schnitt kaum älteren 14 Ministerinnen und zehn Minister haben es von Beginn an mit alten und neuen Problemen zu tun gehabt, von denen die meisten ererbt waren. Der Mapuche-Konflikt im Süden des Landes und die Kriminalität in den Städten geraten zunehmend außer Kontrolle.

Die Drogenbanden tragen vor allem in der Hauptstadt Santiago ihre Konflikte auf offener Straße aus. Die Inflation ist auf eine Jahresteuerungsrate von 11,5 Prozent geschnellt, dabei hatte Chile schon vorher europäisches Preisniveau bei lateinamerikanischen Einkünften. Lastwagenfahrer:innen haben versucht, das Land lahmzulegen, im Norden kam es zu Scharmützeln zwischen Einheimischen und venezolanischen Migrant:innen. Und die Verfassunggebende Versammlung zankte lange zäh um die 449 Artikel des neuen Grundgesetzes, das im Juli präsentiert und über das im September abgestimmt werden soll.

Gabriel Boric in Chile: Die Regierung hat sich stabilisiert

Hinzu kamen unglückliches Agieren der Kabinettsmitglieder und das Schlingern zwischen Laisser-faire und dem Einsatz staatlicher Sicherheitskräfte im Mapuche-Konflikt. Der Wunsch, es anders machen zu wollen als die rechten Regierungen zuvor, ist in jedem Handeln spürbar. Aber in Araukanien, der Mapuche-Region, verhängte Boric am Ende dann doch einen „begrenzten“ Ausnahmezustand.

Inzwischen hätte sich die Regierung aber stabilisiert, die Nervosität sei weg, betont Claudia Heiss, Politologin an der Universidad de Chile. „Es ist mehr Ordnung da, und sie haben die Richtung klarer.“ Jetzt gehe es vor allem darum, die Wirtschaft auf Kurs zu bringen und die Kriminalität wirksam zu bekämpfen und vor allem die Bevölkerung von den umfassenden Reformen zu überzeugen. Zumal die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für die erfolgsverwöhnte Wirtschaft des Andenstaates ein geringes Wachstum von 1,4 Prozent in diesem und eine Stagnation (0,1 Prozent) im kommenden Jahr voraussagt.

Bei seiner Rede vor dem Kongress rief Boric dann auch alle Seiten auf, gemeinsam an der Vision eines „Chiles für alle“ zu arbeiten. „Ein Land, das sozial zerrissen ist, kann nicht wachsen, daher ist eine gerechtere Einkommensverteilung eine notwendige Voraussetzung für die Rückkehr auf den Pfad der Entwicklung.“ Dafür müssten Unternehmen und Gewerkschaften gleichermaßen sorgen.

Gabriel Boric stellt sich Chile feministisch und grün vor

Und Boric sprach vor allem von dem Land, das er sich vorstellt – feministisch, grün und ohne Gewalt. „Ich werde dafür sorgen, dass das Gesetz eingehalten wird und dass die Bürger wieder in Ruhe durch ihre Städte gehen können“, sagte er, wissend, dass das für viele die größte Sorge ist.

Der junge Präsident hat mit der Rede Vertrauen zurückgewonnen. In einer Umfrage jüngst stieg seine Popularität von 36 auf 44 Prozent an. Es bleiben noch fast vier Jahre, um die Probleme zu lösen. Viel Zeit, Dinge zu ändern und viel Zeit, Fehler zu machen.

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