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Nach dem Erdbeben: Warten auf den Staat

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Von: Yağmur Ekim Çay

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Erdbebenkatastrophe in Türkei und Syrien.
Eine Frau sitzt auf Trümmern, nach dem verheerenden Erdbeben. Mehr als 13 Millionen Menschen in der Türkei sind nach Einschätzung der Regierung von der Erdbebenkatastrophe betroffen. © Khalil Hamra/dpa

Erst am Dienstag kommen Rettungskräfte ins alevitische Hatay - das weckt Misstrauen

Ein Vater wickelt sein totes Kind in eine Decke ein, mehrere Häuser liegen umgestürzt direkt nebeneinander, eine Mutter steht da und schreit laut, in der Hoffnung, dass ihre Tochter sie unter den Trümmern hört. Die Stadt Hatay hat über eine Million Einwohnerinnen und Einwohner und liegt an der Grenze zu Syrien. Nun ist sie eine der am stärksten von den Erdbeben betroffenen Städte in der Türkei. Nach Angaben des Bürgermeisters Lütfü Savas sind dort rund 2000 Gebäude eingestürzt, darunter drei Krankenhäuser. Doch die ersten Rettungskräfte treffen erst 36 Stunden nach dem Erdbeben ein. Viele fragen sich vor Ort und online: „Wo ist der Staat?“

Erdbeben in der Türkei: Berühmter Schauspieler sucht nach seiner Tochter

Orhan Aydin ist 76 Jahre alt und ein berühmter Schauspieler. Am Montagmorgen meldet er sich auf Twitter: Er könne seine Tochter, die in Hatay lebt, nicht erreichen. Doch nach kurzer Zeit wird ihm klar, dass sein Haus eingestürzt ist und seine Tochter unter den Trümmern liegt. Er schreibt seine Adresse auf Twitter und sagt: „Bitte helft. Meine Tochter ist dort.“ Einige Personen vor Ort versuchen, sie zu finden. „Meine Tochter macht immer noch Geräusche. Es gibt Leute, die versuchen, sie herauszuholen. Sie sind hilflos. Mein Schmerz ist unbeschreiblich“, schreibt er, „das haben wir nicht verdient“.

Er ist nicht der Einzige, der in Hatay ohne professionelle Hilfe nach seinen Bekannten sucht. Seit Montagmorgen posten mehrere Menschen auf Twitter die Adressen ihrer Bekannten und bitten um Hilfe. Viele kritisieren, dass der Staat sowohl nicht-staatliche Organisationen, als auch oppositionelle Parteien davon abhält, vor Ort zu helfen. Für die Kritik sorgt auch, dass der Minister für Umwelt und Stadtplanung, Murat Kurum, gesagt hat, die Regierung würde keine Hilfe in Erdbebengebieten zulassen, die nicht von der Katastrophenschutzbehörde AFAD kommt. Dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan alle Bürgermeister der betroffene Städte kontaktiert hat, bis auf die von Hatay und Adana, die der oppositionellen CHP gehören, sorgt ebenfalls für Kritik. Viele fragen auf Twitter: „Warum ist der türkische Staat nicht in Hatay? Weil die Mehrheit alevitisch und oppositionell ist? Weil es keine AKP-Stadt ist? Warum ist AFAD noch nicht dort? Warum ist es auf keinem Nachrichtensender zu sehen?“

Erinnerung an vergangenes Beben

Die Zahl der Opfer nach dem schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei steigt weiter an. Am Mittwoch wurde offiziell von mehr als 5600 Todesopfern und über 20 000 Verletzten in der Türkei und in Nordsyrien ausgegangen, allerdings dürften die Zahlen noch deutlich steigen. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO sind durch die Katastrophe insgesamt rund 23 Millionen Menschen in der Region mehr oder weniger schwer betroffen.

Beobachter:innen fragen sich derweil, welche Folgen das Beben für die türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai haben wird. Staatschef Erdoğan rechnet offenbar damit, dass die Opferzahlen des Erdbebens in der Westtürkei, bei dem 1999 etwa 17 000 Menschen starben, diesmal übertroffen werden.

Das damalige Beben leitete auch eine politische Zeitenwende ein. Das chaotische Katastrophenmanagement, die Inkompetenz vieler Politiker:innen und das Versagen der Armee brachten die Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit in Misskredit. Die Finanzkrise von 2001 besiegelte das Ende seiner Koalition und ebnete den Weg für den Wahlsieg von Erdoğans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP).

Anders als seinerzeit Ecevit versucht Erdoğan allerdings nicht, das Ausmaß der Katastrophe kleinzureden und die Opferzahlen zu vertuschen. Er nimmt auch bereitwillig ausländische Hilfe an, während 1999 nationalistische Hardliner in der damaligen Regierung sogar Blutspenden aus dem Ausland als „unrein“ zurückwiesen. öhl/kna

Erdbeben: „Eine einsame Stadt“

„Es sind 20 Stunden vergangen und ihr habt immer noch keine Such- und Rettungsaktion gestartet. Ihr seid der Mörder dieser Menschen“, schreibt der türkische Abgeordnete Baris Atay. Auch seine Partei, die Türkische Arbeiterpartei (TIP), fordert den Staat auf, auf die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger zu hören und dafür zu sorgen, dass Such- und Rettungsteams, sowie medizinisches Personal nach Hatay kommt. Auch Bürgermeister Savas fordert Unterstützung. „Die Menschen laufen Gefahr, an Unterkühlung zu sterben. Wir versuchen unser Bestes, um die Menschen unter den Trümmern zu retten, aber es ist unmöglich. Wir brauchen fähiges Personal von außen.“

„Es gibt viele Gesundheitshelfer. Aber es mangelt an Medikamenten und Hilfsgütern. Es gibt kein Wasser, keinen Treibstoff, keine Lebensmittel und keine medizinische Versorgung. Wir erhalten keine Antwort auf unsere Forderungen. Wir brauchen dringend Hilfsgüter“, sagt ein Arzt in Hatay. Im Internet organisieren sich einige, um Kräne zu mieten. Nach Angaben der AFAD wurden bisher alle Erdbebengebiete erreicht. Doch der Abgeordnete Atay widerspricht: „Es ist eine einsame Stadt. Die Baumaschinen wurden von den Bürgern selbst hergebracht. Niemand schickt irgendwas. Es gibt sowieso kein Rettungsteam. Es gibt keine AFAD hier. Es gibt niemanden.“

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