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„Vorbestraftes“ Polen steht nach EU-Klage vor juristischem Wirrwarr

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Ein früheres Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Bild) zwang Polen dazu, eine Million Euro täglich zu zahlen.
Ein früheres Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Bild) zwang Polen dazu, eine Million Euro täglich zu zahlen. © Horst Galuschka/Imago

Nach der Klage der EU-Kommission gegen Polens Regierung droht dem Land rechtliches Chaos. Warschau setzt auf eine Justizreform – doch viele bezweifeln, dass das Brüssel zufrieden stellt.

Die EU-Kommission hat mit ihrer Klage gegen die polnische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof in dieser Woche ein weiteres Kapitel im langen Hin und Her um die polnische Rechtsstaatlichkeit eröffnet. Diesmal geht es um das polnische Verfassungsgericht. Jenes habe entschieden, dass polnisches Recht über EU-Recht stehe, so der konkrete Grund der Klage. Seit 2015 regiert die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Polen, seit 2016 laufen von Brüssel Rechtsstaatlichkeitsverfahren aufgrund umstrittener Justizverfahren gegen Warschau.

Die Reaktionen auf die Entscheidung aus Brüssel waren gewohnt scharf. „Man darf nicht wegen ein paar Silberlingen die polnische Souveränität verkaufen“, so etwa der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro. Eine Anspielung auch auf mögliche finanzielle Konsequenzen nach einem ungünstigen Urteil. Denn Polen ist bereits „vorbestraft“: So gibt es ein Urteil vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, dass das Land eine Million Euro täglich zu zahlen hat, da es eine Entscheidung des Gerichts über ein „Disziplinarsystem“ für Jurist:innen nicht umsetzte, das Urteil gilt seit November 2021. Das Verfassungsgericht in Warschau behält sich jedoch vor, die Urteile des Europäischen Gerichtshof zu prüfen und auch zu verwerfen – wie etwa im Fall der Zahlungsforderungen. Die EU-Kommission begründet ihre Klage auch auf die „Unregelmäßigkeiten bei den Ernennungsverfahren“ der Richterinnen und Richter des Gerichts zu Regierungsbeginn der PiS. Denn Jaroslaw Kaczynski, Parteichef und Chefstratege der „konservativen Revolution“, sah das Verfassungsgericht als erstes Hindernis für die geplante und kommende staatliche Kontrolle der Justiz an.

Justizreform in Polen: unklare Rechtssituation

Doch die vielen Rechtskniffe, die der promovierte Jurist in die Wege leitete, führen auch zu innerpolnischer Verwirrung. So ist das Verfassungsgericht derzeit in einer unklaren Rechtssituation – denn sechs der insgesamt 15 Richterinnen und Richter sowie die Opposition sind der Meinung, das die Kadenzzeit der Vorsitzenden Richterin Julia Przylebska am 20. Dezember vergangenen Jahres abgelaufen ist. Das Regierungslager und die verbleibenden Jurist:innen sehen dies jedoch anders.

Die Frage ist offen wie umstritten, ob das Verfassungsgericht in Warschau in seiner jetzigen Lage, auf die Klage der EU-Kommission überhaupt reagieren kann. Ausgerechnet an dieses Verfassungsgericht hat Staatspräsident Andrzej Duda in der letzten Woche eine wichtige Gesetzesnovelle zur Bearbeitung weitergeleitet. Der Gesetzesentwurf sieht einen Kompromiss zwischen den Forderungen aus Brüssel und der staatlich kontrollierten Justiz in Polen vor, als Konsequenz sollen bisher blockierte Gelder aus Brüssel wieder fließen.

Justizreform in Polen: Milliarden gesperrt

Im Kern geht es um die „Disziplinarkammer“, deren Abschaffung bereits 2020 per Urteil vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gefordert wurde. Mittels dieses Organs konnten Jurist:innen bis hin zum Berufsverbot belangt werden. Diese Kammer wurde zwar mittlerweile abgeschafft, jedoch durch eine andere Organisation ersetzt („Kammer für berufliche Verantwortung“). Nun soll diese Institution via Gesetzesveränderung nicht mehr Teil des Obersten Gerichts, sondern des Verwaltungsgerichts werden.

Selbst wenn nach langem Prozedere das Gesetz in Kraft treten sollte, bezweifeln viele Beobachter:innen, dass Brüssel dies als ausreichend akzeptiert. Aufgrund der umstrittenen Justizreform sind bislang 24 Milliarden Euro Schenkung, 12 Milliarden Euro Anleihe als Unterstützung für die Verluste durch die Pandemie (Europäischer Aufbauplan) für Polen gesperrt.

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