Wann und wie könnten Verhandlungen beginnen?

Wolfgang Sporrer argumentiert, dass Verhandlungen im Ukraine Krieg auch Sinn haben, wenn dadurch eventuell kein schneller Waffenstillstand erreicht werden kann.
Kaum jemand glaubt zur Zeit an Verhandlungen als probates Mittel für Fortschritte zur Lösung des Ukraine-Konfliktes. Die Ukraine, das Opfer des Angriffskrieges, hat Verhandlungen mit dem Aggressor Russland per Dekret ausgeschlossen, und Russland stellt völlig unrealistische Vorbedingungen. Der kollektive Westen schweigt dazu, auch um die eigene Uneinigkeit bei dem Thema des Kriegszieles zu überdecken.
Am Schlachtfeld ebbt die Lage hin und her, einmal wähnt sich die Ukraine im Vorteil, einmal Russland. Beide Seiten sind überzeugt, mit der Zeit stärker zu werden: Die Ukraine sieht mehr Waffen aus dem Westen, während Russland auf mehr Mobilisierung und auf mehr Waffenproduktion und auf die Kriegsmüdigkeit des Westens setzt. Das sind die schlechtesten Voraussetzungen für einen verhandelten Waffenstillstand.
Was kann also abseits des Schlachtfeldes trotz all dem erreicht werden? Oft wird von Wohlmeinenden der Fehler gemacht, an die Situation mit vorgefertigten „Friedensplänen“ heranzutreten, die Kompromisse auf der einen oder anderen Seite verlangen. Dies führt dann zu der wütenden Zurückweisung der Vorschläge von zumindest einer Seite – und zur Diskreditierung des Instrumentes „Verhandlungen“ an sich.
Daher kann ein Zugang, der auf Verhandlungen als wichtiges Instrument der Konfliktlösung setzt, nur funktionieren, wenn diese vorerst als ergebnisoffener Prozess definiert werden und Mediatoren einen solchen Prozess ohne „Endziele“ begleiten.
Man würde in einem solchen Prozess, der der UN-geführten Istanbuler Getreideinitiative nachgebildet werden könnte, noch nicht über einen vollen Waffenstillstand oder gar über eine „politische Lösung“ verhandeln. Aber man könnte mit anderen Themen beginnen. Einen Anfang könnten Schutzzonen um Atomkraftwerke machen, gefolgt von Verhandlungen über Schutzzonen rund um Spitäler, Schulen und andere humanitäre Einrichtungen. Dem könnten wiederum Verhandlungen über „kleine“, temporäre Waffenstillstände folgen, zum Beispiel zum Schulbeginn, zur Aussaat, zur Ernte, zu Feiertagen.
Zur Serie
Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?
In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen.
Alle Artikel finden sich auch auf unserer Homepage unter www.fr.de/friedensfragen.
Dadurch könnten gleich drei wichtige Ziele erreicht werden. Erstens, und am allerwichtigsten: gerettete Menschenleben. Auch ohne generellen Waffenstillstand würden sich humanitäre Vorteile ergeben. Kleine Pausen im Kampf würden möglich, was weniger Sterben und weniger Leid bedeutet.
Zweitens: Ein solch permanentes Verhandlungsforum würde auch eine deutliche Verminderung des Eskalationspotenzials mit sich bringen. Wo man redet, können auch Missverständnisse beseitigt werden, Gefahren besprochen werden; so könnte ein solcher Verhandlungstisch eine wichtige Frühwarnfunktion vor Eskalationen erfüllen.
Und drittens: In einem solchen Verhandlungsforum könnte auch – langsam – ein Minimum an Vertrauen entstehen, das derzeit vor allem gegenüber der Russischen Föderation vollkommen verloren gegangen ist. Dazu wird es notwendig sein, jedes auch noch so kleine Abkommen mit robusten Verifikationsklauseln und -mechanismen auszustatten. Fehlendes Vertrauen ist eines der Haupthindernisse, warum an weiterreichende Friedensgespräche derzeit nicht gedacht wird.
Wer sollte nun ein solches Forum einberufen und als Mediator fungieren? Der Westen oder die EU sind für diese Rolle nicht geeignet, da sie von Russland als Kriegspartei gesehen werden, also müsste eine solche Initiative entweder von den Vereinten Nationen (wie die Istanbuler Getreideinitiative) oder von der OSZE ausgehen. Diese Institutionen müssten einen von allen Seiten akzeptierten Mediator benennen – eine schwierige, jedoch nicht unmögliche Aufgabe. Dem Westen, China und der Türkei würde die Rolle zufallen, sowohl Russland als auch der Ukraine nachhaltig zu empfehlen, an solchen Verhandlungen ohne Vorbedingungen teilzunehmen.
Derzeit verursacht der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gigantische materielle und humanitäre Kosten, vor allem in der Ukraine, aber auch weltweit. Die Gefahr einer atomaren Eskalation wächst. Darum muss alles Menschenmögliche versucht werden, das Sterben und das Leiden so bald wie nur irgendwie möglich zu beenden, oder auch nur einzudämmen. Und dazu können Verhandlungen beitragen, auch zum jetzigen Zeitpunkt.
Wolfgang Sporrer
lehrt Konfliktmanagement an der Hertie School in Berlin. Vorher war er für die OSZE tätig, unter anderem in Kiew.
