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Wahlverhalten der Deutschtürken ist ein Problem

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Von: Markus Decker

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HDP-Anhänger in Berlin: Der Wiedereinzug der Partei ins Parlament wird als Hoffnungsschimmer gedeutet.
HDP-Anhänger in Berlin: Der Wiedereinzug der Partei ins Parlament wird als Hoffnungsschimmer gedeutet. © dpa

Für die Unterstützung von Deutschtürken für Erdogan gibt es viele Gründe.

Die Begeisterung brach sich am Sonntag optisch wie akustisch Bahn. In Berlin und anderen deutschen Städten fuhren Deutschtürken mit ihren Autos durch die Straßen und feierten den Wahlsieg „ihres“ Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Den Hupkonzerten entsprach das Wahlverhalten. Nach Auszählung von fast 80 Prozent der Stimmen in Deutschland kam Erdogan hierzulande auf 65,7 Prozent im Vergleich zu 52,6 Prozent insgesamt. Sein stärkster Mitbewerber Muharrem Ince von der linksliberalen Oppositionspartei CHP holte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu nur 21,5 Prozent, der Kandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, 9,5 Prozent.

Essen ist Hochburg der Erdogan-Anhänger

Als Hochburg der Erdogan-Anhänger in Deutschland erweist sich Essen in Nordrhein-Westfalen, wo ihn 76,3 Prozent unterstützten. Die wenigsten Stimmen bekam er in Berlin – 51,5 Prozent. Die Wahlbeteiligung war mit 49,7 Prozent so hoch wie nie. Beim Referendum über die Präsidialverfassung im Frühjahr 2017 hatte sie bei 46 Prozent gelegen.

Die Empörung über das Ergebnis des Votums ist nun groß. Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, sagte: „Alle Türken, die die Errichtung eines Ein-Mann-Regimes auf deutschen Straßen feiern, zeigen damit, dass sie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen.“

Auch der grüne Außenexperte Cem Özdemir kritisierte die Erdogan-Anhänger. Sie hätten bei den Autokorsos „nicht nur gefeiert, dass ihr Alleinherrscher jetzt noch stärker Alleinherrscher wird“, sondern auch „ein bisschen eine Ablehnung zur liberalen Demokratie zum Ausdruck gebracht“, erklärte er im Deutschlandfunk.

Auf den zweiten Blick ist das Ausmaß der Erdogan-Begeisterung bei uns indes nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint. Und da, wo diese Begeisterung existiert, gibt es Erklärungen dafür.

Tatsache ist zunächst, dass von den rund drei Millionen Deutschtürken etwas weniger als die Hälfte, nämlich 1,4 Millionen, wahlberechtigt sind. Von diesen wiederum schritten 49,7 Prozent zur Urne. Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien in Essen sieht darin ein Zeichen, dass die Hälfte der wahlberechtigten Deutschtürken mit der Türkei nichts zu tun habe, sondern hier partizipieren wolle.

Zwei Gründe für Erdogan-Zustimmung

Dafür, dass die Zustimmung zum autoritären Präsidenten unter den Wählern so hoch war, werden von Experten zwei Gründe genannt. Kizilocak verweist erstens darauf, dass einst mehrheitlich Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen und bildungsfernen Schichten nach Deutschland gekommen seien. „Sie hängen an ihren traditionellen Werten.“ Das gilt nicht für Türken allein, sondern auch für andere Migrantengruppen wie Russlanddeutsche.

Viele Modernisierungen daheim werden nur indirekt nachvollzogen. Günter Seufert von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik sagt aus eigener Erfahrung: „Ich habe mich nie so Deutsch gefühlt wie in den 19 Jahren, in denen ich in der Türkei gelebt habe. Wenn man dauernd positiv oder negativ auf seine Identität angesprochen wird, dann nimmt die Bedeutung der Identität im Bewusstsein zu.“ Zudem bekämen die konservativen Erdogan-Anhänger aus Deutschland bei ihren Urlauben gar nicht mit, dass die urbanen Schichten in der Türkei oft kritisch gegenüber Erdogan seien.

Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkei-Studien führt als zweiten Grund die bis heute mangelnde Integration vieler Deutschtürken an, auch von jungen. „Sie fühlen sich noch nicht richtig aufgenommen“, erklärt sie. Daraus resultierten „Trotzreaktionen“. Erdogan gebe den Nicht-Integrierten das Gefühl: „Ich bin Euer Präsident.“ Man solle dies jedoch nicht mit ideologischer Nähe zu Erdogans Regierungspartei AKP verwechseln. Denn ansonsten neigten die meisten Deutschtürken SPD, Grünen und Linken zu.

Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik warnt deshalb einerseits davor, dass Wahlverhalten der Deutsch-Türken zu dramatisieren – zumal es in europäischen Nachbarländern ähnlich und teilweise noch AKP-lastiger sei. Andererseits sei es schon „ein Problem“.

Wie auch immer: Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, glaubt, dass die Deutschtürken nach den Aufwallungen der letzten Jahre Ruhe wollten. Gut möglich, dass diese nun eintritt.

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