Wahl in Frankreich: „Der Karren steckt tief im Dreck“

Nach der Wahl in Frankreich spricht Experte Frank Baasner über die Unzufriedenheit in der französischen Gesellschaft, die Bedeutung der Parlamentswahl im Juni und die Grünen.
Herr Baasner, die Präsidentschaftswahl hat erneut die Zerrissenheit der französischen Gesellschaft gezeigt. Nun hat sich Emmanuel Macron nach seinem Sieg am Sonntagabend wieder pompös feiern lassen. Konkrete Angebote an diejenigen, die ihn nicht oder nur als „kleineres Übel“ gewählt haben, hat er nicht gemacht. Will er die Risse überhaupt kitten?
Er wird es versuchen müssen. Es gibt in Frankreich inzwischen drei Lager: Macrons Mitte-Lager, das rechtsextremistische Lager um Marine Le Pen und Éric Zemmour sowie das links-grüne Lager. Schon in den vergangenen Tagen ist sehr deutlich geworden, dass sich Macron natürlich in Richtung Grüne und Linke bewegen wird. Er hat angekündigt, für die Übergangszeit bis zur Parlamentswahl einen „grünen“ Premierminister zu benennen – ein erstes Zeichen dafür, dass er sich wirklich annähern will.

Zur Person
Frank Baasner ist Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg.
Aber immerhin haben in der Stichwahl 41,5 Prozent für Le Pen gestimmt. Deren Wahlkampfthema, die nachlassende Kaufkraft, hat ihr enormen Zulauf beschert. Im Gegensatz zu Macron scheint es ihr gelungen zu sein, Anteilnahme an den Nöten der Bürgerinnen und Bürger zu vermitteln. Kann Macron hier frühere Versäumnisse nachholen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Es geht hier gar nicht so sehr um objektive Dinge. Ökonomisch hat Macron viel getan. Die Arbeitslosigkeit ist wirklich stark gesunken, er hat den Smic, den Mindestlohn, erhöht und viel Geld ausgegeben, um die Folgen der Pandemie abzufedern. Aber subjektiv gibt es das Gefühl, der interessiert sich nicht für uns, der ist nur mit seinen Eliten unterwegs und weit weg in Paris. Marine Le Pen hat dagegen die Rolle der Kümmerin besetzt. Da hat Macron Schwierigkeiten, weil das einfach nicht in seiner Persönlichkeit liegt. Vielleicht kann er ein Zeichen setzen, indem er sich einen Premier holt, der näher dran ist an den Sorgen der Menschen.
Wer Le Pen gewählt hat, hat ihr nationalistisches und rassistisches Programm zumindest billigend in Kauf genommen. Wird Macron dieser Stimmung nachgeben und Zugeständnisse an die Positionen der extremen Rechten machen?
Er wird sicherlich nicht die antieuropäische, nationale Karte spielen. Er wird aber stärker betonen müssen, dass Europa ein beschützendes Instrument ist. Le Pen hat mit harten, nationalen Tönen mehr Vorrang für Frankreich gefordert. Macron wird es anders tun, aber auch er muss natürlich an französische Interessen denken – was er aber schon immer getan hat.
Und was das Thema Kaufkraft betrifft?
Vielleicht wird er Lebensmittel anders besteuern; darüber wird ja auch in Deutschland gesprochen.
Welche Perspektiven sehen Sie für konkrete Projekte wie die Rentenreform oder die Einführung des Verhältniswahlrechts statt des jetzt geltenden Mehrheitswahlrechts?
Die Reform des Wahlrechts wird schon lange eingefordert. Sie wäre gut für Frankreich und demokratisch gesehen korrekt, denn dann könnten sich zumindest auf der Ebene der Abgeordneten alle wiederfinden. Interessanterweise haben sowohl Macron als auch Le Pen angekündigt, dass für die nächste Parlamentswahl Verhältniswahlrecht gelten solle. Aber da gibt es noch einige Fragezeichen.
Und die Rente, also die Erhöhung des Rentenalters von jetzt 62 Jahren?
Es ist Macrons zweite Amtszeit. Er kann nicht noch einmal gewählt werden, deshalb könnte er zumindest eine unpopuläre Reform sicherlich durchbringen. Ich nehme an, das wird die Rentenreform sein, weil sie die strukturell wichtigste ist. Wenn sie nicht angepackt wird, ist es irgendwann zu spät, die Staatsfinanzen und die Beiträge noch einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Wir haben in Deutschland ja die gleiche Diskussion.
Was er umsetzen kann, hängt auch davon ab, wie die Parlamentswahl im Juni ausgeht. Was ist Ihr Tipp – gibt es einen Denkzettel für Macron oder erneut eine Regierungsmehrheit?
Das ist völlig offen. Auch bei der Parlamentswahl gibt es zwei Wahlgänge. Es kommen alle in die Stichwahl, die 12,5 Prozent der Stimmen der eingeschriebenen Wahlberechtigten erhalten haben, inklusive Nichtwähler. Sehr wahrscheinlich wird es neben Macrons Liste eine rechte Liste und eine linke Liste geben, für die sich vielleicht der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon und die Grünen zusammentun. Es kann also gut sein, dass in der Stichwahl mehr als zwei Leute gegeneinander antreten und ein Wahlkreis mit 30 Prozent der Stimmen problemlos gewonnen werden kann. Deshalb ist nicht klar, ob Macron wirklich eine Mehrheit bekommt.
Spannend. Aber zurück zu den vielen Unzufriedenen. Mehr als 40 Prozent der 18- bis 24-Jährigen haben in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl Mélenchon gewählt, ihre Wut auf Macron ist groß. Viele werfen ihm Versäumnisse in der Umweltpolitik und bei der Bildung vor. Was wird er dieser großen Gruppe anbieten?
Es ist richtig, dass Erstwähler und auch Menschen um die 30 vor allem links-grün gewählt haben. Aber einige Junge haben eben auch für Le Pen oder sogar den noch extremistischeren Zemmour gestimmt. Die alle einzufangen, wird schwierig. Macron hat das Image des Präsidenten der Reichen. Er hat zwar versucht, die Bevölkerung in manchen Fragen zu beteiligen, er hat etwa den Klimarat einberufen mit vielen jungen Mitgliedern. Letztlich hat er dann aber doch nicht alles umgesetzt, was dieser Rat vorgeschlagen hatte.
Das hat viele sehr enttäuscht.
Ja, der Karren steckt tief im Dreck. Um ihn da wieder herauszukriegen, könnte Macron für die Parlamentswahl in einigen Wahlkreisen bewusst junge Leute mit ökologischem Profil aufstellen, um Allianzen mit den Grünen zu bilden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Grünen die Kommunalwahlen in vielen Städten spektakulär und ganz unerwartet gewonnen haben. Von den Grünen-Wählerinnen und -Wählern kann viel abhängen.
Rechnen Sie damit, dass sich die Frustration der enttäuschten Wählerschaft auch in Gewalt niederschlägt, also etwa die Gelbwesten-Proteste wieder aufflammen?
Es gab am Sonntagabend schon ein paar Protestaktionen. Ich nehme aber an, dass sich alle Kräfte jetzt auf die Parlamentswahl konzentrieren. Mélenchon hat nach der Stichwahl ja schon gesagt: Es wird einen dritten Wahlgang geben, und den gewinnen wir. Laut Umfragen wünscht sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung, dass Macron keine Mehrheit im Parlament bekommt, sondern eine Art große Koalition bilden muss.
Er soll nicht durchregieren können.
Genau. Macron muss in den kommenden Wochen der Sorge entgegentreten, er wolle knallhart sein Programm durchziehen. Er wird die Regierung in den nächsten Tagen austauschen. Wenn ihm da ein guter Coup gelingt und glaubwürdige Leute kommen, könnte es sein, dass sich zumindest ein Teil der grünen Wählerschaft ihm zuwendet. Macron muss jetzt liefern.
Interview: Sabine Hamacher