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Experte zu Türkei-Wahl: „Es könnte eng werden für den türkischen Präsidenten Erdogan“

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Von: Anne-Christine Merholz

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lenkt seit mehr als 20 Jahren das Land am Bosporus. Bei der Wahl am 14. Mai muss er um seine Wiederwahl fürchten. 

Im Interview mit Ippen.Media erklärt der Journalist und Türkei-Kenner Oliver Mayer-Rüth welchen Einfluss die Erdbeben, die wirtschaftliche Situation im Land und die türkische Gemeinschaft in Deutschland auf die Wahlen hat.

Herr Mayer-Rüth, ein schreckliches Erdbeben hat die die Türkei vor rund zwei Monaten heimgesucht. Wie ist die Situation vor Ort nach der Katastrophe?

Nach wie vor dramatisch. Zehntausende Menschen sind unter den Trümmern umgekommen. Zehntausende Menschen haben Angehörige und das gesamte Hab und Gut verloren. Jetzt leben sie in Zelten oder bei Verwandten. Der Staat ist überfordert und kann die Not kaum lindern. Gott sei Dank gibt es viele freiwillige Helfer, die immer noch in der gesamten Türkei Spenden sammeln, diese in die betroffenen Gebiete fahren und dort verteilen.  

Auch in Istanbul wird massiv vor einem drohenden Erdbeben gewarnt. Wie bereiten sich die Menschen darauf vor?

Auf so ein apokalyptisches Erdbeben wie im Februar können sich die Menschen nur schwer vorbereiten. Man kann einen Erdbebenrucksack mit Trinkwasser, Decken und Arzneimitteln in die Wohnung stellen. Man kann sämtliche Familienmitglieder mit Trillerpfeifen ausstatten, damit mit man im Notfall unter den Trümmern gehört wird. Aber für die Vorbereitung auf ein so gigantisches Erdbeben ist der Staat gefragt. Der hat beim vergangenen Erdbeben offensichtlich versagt. Eine Erdbebensteuer, die für Ausrüstung und schweres Gerät zur Bergung von Verschütteten hätte eingesetzt werden sollen, sei zweckentfremdet worden, moniert die Opposition. Und insbesondere die Bauaufsichtsbehörden haben an vielen Stellen weggeschaut. In Istanbul seien mehrere tausend Gebäude einsturzgefährdet, hieß es kurz nach dem Erdbeben. Sollte es zu einer ähnlichen Katastrophe in der 16 Millionen Einwohner großen Megametropole kommen, würde das Chaos alle Vorstellungen weit übertreffen.  

Mitte Mai stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Wie ist die Stimmung im Land?

Es könnte eng werden für den türkischen Präsidenten. Ich gehe nicht davon aus, dass seine Partei AKP gemeinsam mit der rechtsextremen Partei MHP genug Stimmen für eine Mehrheit im Parlament bekommt. Ob Erdogan selbst bei der Präsidentschaftswahl dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu unterliegt, ist jedoch noch keine ausgemachte Sache, denn Kilicdaroglu gilt nicht als starke Führungsfigur, die wie Erdogan politischen Gegnern in der Türkei, aber auch im Ausland die Stirn bietet. Aber genau so jemanden wünscht sich die Mehrheit der Türkinnen und Türken. Gleichzeitig hat der Glaube an die Führungsfähigkeiten Erdogans deutlich nachgelassen. Es wird knapp werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt es zur Stichwahl.  

Welche Themen beschäftigen die Menschen in der Türkei?

Das Erdbeben und die Inflation sind sicherlich Themen, die viele Menschen bewegen. Viele Produkte des täglichen Bedarfs sind so teuer geworden, dass selbst ein zum Jahreswechsel deutlich erhöhter Mindestlohn dies nicht mehr kompensieren kann. Nicht unterschätzen darf man jedoch das vom Erdoganlager verbreitete Narrativ, dass im Falle eines Wahlsiegs der Opposition gläubige Muslime in der Türkei erneut marginalisiert werden. Jahrzehntelang hat eine säkulare Elite im Bündnis mit dem Militär in der Türkei den Ton angeben. Frauen mit Kopftuch war beispielsweise der Zugang zur Universität nicht erlaubt. Seit Erdogan an der Macht ist, haben religiöse Menschen deutlich mehr Chancen gesellschaftlich aufzusteigen. Viele von ihnen treibt die Sorge um, dass ihnen eine Regierung unter Kilicdaroglu das Leben erneut schwer machen könnte. 

Also ist das Erdbeben vor den Wahlen in den Hintergrund gerückt?

In der Türkei sagen viele, die Halbwertszeit von Ereignissen, die in den Medien große Aufmerksamkeit erreichen, sei etwa zwei Wochen. Danach wendet sich die Öffentlichkeit dem nächsten Thema zu. Nach dem Erdbeben kam der Fastenmonat Ramadan und danach die Feiertage. Die Überlebenden des Erdbebens, aber auch ein Großteil der Gesamtbevölkerung müssen sich dem Alltag stellen. Aufgrund der wirtschaftlichen Bedingungen haben viele Menschen keine Zeit, wochenlang über die Katastrophe nachzudenken und die Opfer zu betrauern. Jetzt blickt das Land auf die Wahl und das Erdbeben und die Folgen sind eines von vielen Themen. Die nahezu gleichgeschaltete Medienlandschaft hat in den vergangenen Tagen beispielsweise stundenlang Bilder eines von Erdogan präsentierten Kriegsschiffes gezeigt, auf dem Drohnen und Hubschrauber landen können. Tausende Schaulustige konnten in den vergangenen Tagen das Schiff besuchen. So etwas löst in der nationalistisch geprägten Türkei Begeisterung aus und lenkt ab von problematischen Themen

Spüren Sie eine Wechselstimmung, wie er inzwischen immer öfter von deutschen Korrespondenten beschrieben wird?

Viele wollen einen Wechsel, aber die Umfragen deuten bisher nicht auf einen Erdrutschsieg des Oppositionskandidaten hin und den braucht es meiner Meinung nach, damit Erdogan ohne Diskussionen und Spielchen den Palast räumt. 

In Deutschland sind 1,5 Millionen Türkinnen und Türken aufgerufen, bei den Wahlen ihre Stimmen abzugeben. Wie sprechen die türkischen Parteien die Diaspora-Türken aus Ihrer Sicht an?

Viele der in Deutschland lebenden stimmberechtigten Türkinnen und Türken sind religiös, konservativ und nationalistisch geprägt und werden Erdogan erneut ihre Stimme geben. Für sie ist die Türkei das gelobte Land. Während Erdogan bei der Wahl 2018 in der Türkei selbst mit etwas mehr als 52% gewann, stimmten in Deutschland mehr als 60% für ihn. Da die Türkinnen und Türken in Deutschland von Erdogans wenig erfolgreicher Wirtschaftspolitik nicht betroffen sind, sehen sie auch keinen Grund ihr Wahlverhalten zu ändern. Während in der Türkei über Inflation gesprochen wird, hat ein AKP-Abgeordneter bei einem Besuch in Deutschland darüber gesprochen, wie Terrorismus bekämpft werden müsse. Viele Türken in der Türkei ärgern sich über das Wahlverhalten der stimmberechtigten Landsleute in Deutschland. 

Anfang Mai erscheint Ihr Buch „Der Allmächtige?“. Woher kommt die deutsche Faszination für Präsident Erdogan?

Er ist seit zwanzig Jahren an der Macht. In den vergangenen sieben Jahren, seit dem Putschversuch, ist seine Politik immer autoritärer und rigider geworden. Gewaltenteilung, Demokratie, eine unabhängige Justiz sind unter Druck. Die Türkei ist ein Nato-Land und dennoch bandelt er zunehmend mit dem russischen Präsidenten Putin an. Erdogan hat wiederholt gedroht und auch versucht, Flüchtlinge in die EU zu schicken. Seine Außenpolitik ist expansiv. Er hat sein Militär mehrfach in Nordsyrien einmarschieren lassen. Es ist nicht nur eine Faszination. Erdogan ist eine Herausforderung für den Westen geworden. Er ist unberechenbar und deshalb ist es wichtig, ihn zu beobachten und zu versuchen, ihn zu verstehen. Und letztendlich spiegelt Erdogan auch den Wunsch des türkischen Volkes nach Größe wider.  

Sie haben von 2016 bis 2022 die Türkei für die ARD beobachtet, zuletzt als Leiter des ARD-Studios. Wie hat sich das Land in dieser Zeit geändert?

Nach dem Putschversuch ist Erdogan ein politisches Bündnis mit der rechtsextremen Partei MHP eingegangen. Seitdem ist die Türkei Jahr für Jahr nationalistischer geworden. Eine meiner Meinung nach ungute Tendenz, die allerdings in vielen Ländern der Welt beobachtet werden kann. Welche Folgen ein überbordender Nationalismus haben kann, muss man in Deutschland niemandem erklären. Die Türkei ist ein kulturell reiches Land. Sie wurde in den letzten Jahrhunderten geprägt von Türken, Kurden, Armeniern, Griechen, Juden. Der kulturelle Reichtum entstand durch das friedliche Miteinander der verschiedenen Völker und Religionen. Nationalismus bewirkt das Gegenteil. 

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Der Autor Oliver Mayer-Rüth © privat

Journalist Oliver Mayer-Rüth war von 2016 bis 2022 ARD-Korrespondent in Istanbul. In dieser Woche erscheint sein Buch „Der Allmächtige? Die Türkei von Erdoğans Gnaden“. Mayer-Rüth zeigt auch auf, welche Optionen der Schlüsselstaat im geopolitischen Poker zwischen der EU und Russland hat. 

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