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Vukovar im Sommer 1991

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Über die Zerstörung der Städte in Ex-Jugoslawien

Von Nenad Popovic

Haben die Ereignisse in New York und Washington etwas mit uns in Ex-Jugoslawien zu tun? Haben wir etwas mit dieser Apokalypse zu tun? Die erste Reaktion ist: natürlich nicht. Die Größe des Leids und des Bösen, das über Manhattan gekommen ist, hat uns unsere Bedeutungslosigkeit vor Augen geführt. Man kann nicht helfen, man kann nur zuschauen. Und weinen.

Und dennoch. So gespenstisch es in einem universellen Sinne und modellhaft ist, zieht sich eine gerade Linie zwischen unseren Erfahrungen aus dem Krieg der neunziger Jahre und den Ereignissen der vergangenen Woche. Eine derart brutale, öffentliche Exekution von tausenden Menschen wie jetzt in denTürmen der World Trade Center haben wir zum ersten Mal in Vukovar erlebt. Im Sommer 1991, am helllichten Tag, mitten im zivilisierten Europa, war es plötzlich möglich, eine Stadt und ihre Bewohner öffentlich, vor Fernsehkameras und Korrespondenten aller Nachrichtenagenturen, zu exekutieren. Tagein und tagaus beobachteten wir die sich mehrenden Einschusslöcher im Vukovarer Wasserturm, das uns so zum Symbol für das schreckliche Geschehen wurde, das dort vor sich ging. Zerschossen, durchsiebt, kaputt, steht es heute noch dort im Gestrüpp einer ehemaligen Grünanlage.

Vukovar geschah straflos, dann kam Dubrovnik an die Reihe, als eine Art sadistisches Zwischenspiel. Allabendlich konnten wir, konnte weltweit die kollektive Folterung und das Aushungern einer Stadtbevölkerung verfolgt werden, der systematische Kanonenbeschuss von Gebäuden und Denkmälern, die zum Kulturerbe der Welt gehören. Die erste große Bibliothek ging in Flammen auf, jene des Inter-University-Centers. Und wiederum wurde niemand zur Verantwortung gezogen, wurde keine Schuld zugewiesen, obwohl damals bereits alle Welt wusste, woher die Kanonen herangefahren und wessen Eigentum sie waren - und wer tagein und tagaus, über Monate, den Befehl zu diesem öffentlichen und symbolischen Verbrechen aufrecht erhielt.

Und dann kam Sarajevo an die Reihe, der Akt liest sich als Auftakt zu Manhattan. Dreieinhalb Jahre seelenruhigen Beschusses von Passanten durch Scharfschützen, das Aushungern von Kindern und Alten, die Unterbrechung der Wasser- und Stromzufuhr, der gezielte Mörserbeschuss von Menschen, die hilflos und hungrig in Schlangen auf Brot warten, das Massaker am grünen Markt Markale, wo verzweifelte Bewohner des eingeschlossenen Sarajevos (wo erst kurz zuvor die Olympischen Winterspiele stattgefunden hatten) versuchten, etwas Essbares zu ergattern.

Die Besetzung, die Folterung und der Beschuss der Bewohner Sarajevos gab es weltweit allabendlich auf allen TV-Kanälen, 36 Monate lang. Wolken des schwarzen Rauch stiegen tagelang aus den Trümmern der bosnischen Nationalbibliothek, Leichen von Zivilisten lagen auf den Brücken; der systematische Beschuss der Zwillings-Türme des Hochhauses der Zeitung Oslobodenje, des Symbols des modernen Sarajevos, dauerte auch tagein, tagaus, vor surrenden Kameras - bis nur ein unansehnlicher Stumpf übrig blieb, der auch heute noch dort zu sehen ist.

Auch dieses Verbrechen wurde nicht geahndet. Im Gegenteil, Alija Izetbegovic wurde vor sechs Jahren aus eben dem Sarajevo nach Dayton und nach Paris verfrachtet und dort genötigt, öffentlich die Hand des Verbrechers zu drücken, der all das befohlen hatte - die symbolische und massenhafte Vernichtung seines Landes und seiner Nation.

Die Granatierung eines der schönsten Bauwerke Europas - des phantastischen Bogens der Alten Brücke von Mostar, gebaut im 16. Jahrhundert - die Granatierung dieser Fußgängerbrücke, dauerte ebenso Tage und Tage, und in aller Öffentlichkeit am helllichten Tag. Sie wurde von photographischen und TV-Kameras verfolgt und weltweit gesendet. Bis sie in einer Staubwolke niederfiel, tief unten in den grünen Fluss Neretva.

1992, vor neun Jahren, veröffentlichte die französische Theoretikerin Veronique Nahoum Grappe in führenden französischen Blättern alarmierende Artikel darüber, dass die immer schneller sich drehende Spirale der Brutalität in Bosnien und Kroatien - die systematische Vergewaltigung muslimischer Frauen, die Misshandlung von Zivilisten in Slawonien - unmittelbar damit zusammenhängt, dass Verbrechen ungesühnt blieben. Die Intellektuelle meinte, dass der Westen sofort zu intervenieren und die Verbrecher zu bestrafen habe, denn sonst käme das Böse zu keinem Ende.

Jedoch, niemand bestrafte die Verbrecher, ihre Übeltaten wurden toleriert. General Sljivancanin, der Verbrecher von Vukovar, hat dieser Tage der öffentlichen Vorstellung seines Buches beigewohnt. Ratko Mladic, der Henker von Kijevo und Srebrenica wurde zuletzt im Urlaub gesehen. Radovan Karadzic ist wohlauf und macht Geschäfte; seine Ehefrau, hört man, arbeitet beim bosnisch-herzegowinischen Roten Kreuz. Slobodan Milosevic wurde erst zehn Jahre nach Vukovar und Bihac aus dem Amt gejagt.

Die Belagerung und Beschießung Bihacs dauerte über eintausend Tage. Und Nächte. Menschen, welche zugegeben haben, im Zagreber Stadtwald die wehrlose serbische Familie Zec und ihre zehnjährige Tochter kaltblütig exekutiert zu haben, sitzen dieser Tage sorglos auf sonnigen Zagreber Café-Terrassen. Jadranko Prlic, Herr über die herzegowinischen Konzentrationslager, hat vor einer Woche, entspannt grinsend, Interviews für führende kroatische Zeitungen gegeben und zeigt stolz die von ihm unterzeichneten Befehle. Solche Menschen sind heute in dem Land, in dem ich lebe, in der Regel einflussreiche, prominente Zeitgenossen, die ich nur in den teuersten Restaurants antreffe. So wie Jadranko Prlic, sehe ich dort bisweilen auch Slobodan Praljak, der die Granatierung der Alten Brücke von Mostar befehligt hat. Er ist hochdekorierter und hochpositionierter Geschäftsmann.

Man hat die Niederträchtigen nicht bestraft, ihrem öffentlichen Tun wurde kein Einhalt geboten: etwa 1991, als sie siegestrunken unter schwarzen Fahnen und Totenköpfen auf den Trümmern der zerstörten Stadt Vukovar und den Leichenbergen herumjohlten. Es geschah vor den laufenden Kameras der Weltpresse. Durch diese Unberührbarkeit sind die Niederträchtigen nur gestärkt und angestachelt worden. Hundert mal brutaler als vor zehn Jahren sind nun, im September 2001, die Niederträchtigen daran gegangen, Menschen in Manhattan zu massakrieren. Symbolisch und massenhaft, zu hunderten und tausenden innerhalb weniger Stunden.

Dem Sarajevoer Filmemacher Mladen Vuksanovic war es während der militärischen Belagerung Dubrovniks vor zehn Jahren gelungen, den Beschuss der wehrlosen Stadt von den Artelleriestellungen der jugoslawischen Armee aus zu filmen. Er schnitt daraus einen Dokumentarfilm zusammen und nannte ihn Die Befreiung des Teufels.

Der Autor leitet den "Durieux-Verlag" in Zagreb.

FR vom 18.09.01

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