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Von Harvard nach Xinjiang

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Von: Fabian Kretschmer

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Erkin Tuniyaz im Jahr 2019 auf einer Pressekonferenz.
Erkin Tuniyaz im Jahr 2019 auf einer Pressekonferenz. © AFP

Absolventen der US-amerikanischen Elite-Uni helfen bei der Unterdrückung der uigurischen Minderheit im Westen Chinas.

Vor nicht einmal zehn Jahren war Erkin Tuniyaz ein gefeierter Stipendiat an der US-amerikanischen Eliteuniversität Harvard. Auf deren Homepage lobte die renommierte Kaderschmiede, dass die Forschung des Chinesen „das wissenschaftliche Portfolio zu Innovation und demokratischer Regierungsführung bereichern“ würde. Mittlerweile wirkt jene Stellungnahme aus dem Jahr 2012 zynisch. Denn der heute 59-jährige Tuniyaz ist mittlerweile als zweitmächtigster Regierungsbeamter nach dem Parteisekretär eine Schlüsselfigur des chinesischen Unterdrückungsregimes in der westchinesischen Region Xinjiang. Dort hat die chinesische Staatsführung Hunderttausende Menschen der muslimischen Minderheit der Uiguren in Internierungslager gesperrt.

Doch laut Tuniyaz fällt dies schlicht unter „Deradikalisierungsmaßnahmen“, wie er bei einer Rede im Februar diesen Jahres betonte. Damals sprach der Parteioffizier vor westlichen Diplomat:innen während einer Propaganda-Veranstaltung namens „Xinjiang ist ein wunderbares Land“, um sämtliche Menschenrechtsverbrechen in der Unruheregion abzustreiten. „Die Achtung und der Schutz der Menschenrechte ist Chinas verfassungsmäßiges Prinzip“, sagte Tuniyaz – und fügte an: „Die ethnische Einheit wird immer weiter gefestigt.“

Mit welch rigiden Mitteln die chinesische Staatsführung die „ethnische Einheit“ in Xinjiang fördert, zeichnet nun ein detaillierter Report der australischen Denkfabrik Aspi nach, der sich unter anderem auf geleakte Polizeiberichte stützt.

Bislang hat sich die mediale Aufmerksamkeit vor allem auf das Lagersystem konzentriert, in denen Chinas Sicherheitskräfte Hunderttausende Uigur:innen interniert haben. Nun belegen die Aspi-Studienautor:innen anhand offizieller Dokumente, dass der Alltag der uigurischen Minderheit auch außerhalb der Lager von nahezu vollkommener Überwachung gekennzeichnet ist.

Systematisch werden Nachbarschaftskomitees, meist Mitglieder der Kommunistischen Partei, als eine Art mobile Polizeitrupps dazu eingesetzt, um uigurische Familien auszuspionieren und zu verurteilen. Ein Mann namens Ekrem Imin wurde beispielsweise ins Lager geschickt, weil die Komitees Quoten zu erfüllen hatten. Und der 18-jährige Anayit Abliz wurde laut Polizeiakten zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er im Internet eine File-Sharing-App benutzt hat.

Seither werden die restlichen Familienmitglieder von Abliz regelmäßig von Nachbarschaftskomitees besucht, die ihre Berichte an die Polizei weitergeben. „Es gibt keine verdächtigen Dinge im Haushalt. Der ideologische Status der Familie scheint stabil“, heißt es in einem der Spionage-Reports, die in ihrer Sprache deutlich an das tragische Kapitel der Kulturrevolution (1966–76) erinnern.

Auch die regelmäßigen Denunziationssitzungen, Propagandaveranstaltungen und öffentlichen Treueschwüre, zu denen Uigur:innen gezwungen werden, sind fast identisch mit den Kampagnen der Kulturrevolution. Dass solch ideologische Maßnahmen ausgerechnet unter Xi Jinping wieder eingeführt werden, mag als ironischer Wink des Schicksals durchgehen. Denn der 68-jährige Xi wurde als junger Mann während der Kulturrevolution selbst mehrere Jahre in die Einöde der Provinz Shaanxi geschickt, wo er Hunger litt. Seine Schwester litt derart, dass sie sich das Leben nahm. Es gibt Sinolog:innen, die Chinas Staatschef eine Art Stockholm-Syndrom attestieren: Aufgrund seiner traumatischen Jugenderfahrungen wurde Xi „roter als rot“.

Der 36-jährige Yao Ning, der wie Tuniyaz ebenfalls in Harvard studiert hat, müsste mit der dunklen Geschichte seines Heimatlandes bestens vertraut sein. Schließlich konnte er westliche Bildung genießen und hatte im Gegensatz zum streng zensierten Internet in China freien Zugang zu Informationen. Dennoch hat Yao nach Abschluss seines Doktorats die Arbeit als lokaler Parteisekretär in Xinjiang aufgenommen. Dort verantwortet er mindestens neun Haftanstalten, in denen Uigur:innen interniert werden. Die Fälle zeigen, dass sich junge Mitglieder der neuen Parteielite in China trotz eines Studiums im Westen später dazu entschieden haben, an einem der schwerwiegendsten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit mitzuwirken.

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