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175 Jahre Demokratiegeschichte in Deutschland: Von der Geburtsstunde in die Gegenwart

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Von: Sereina Donatsch

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Der Bundespräsident begrüßt die lebendige deutsche Demokratie.
Der Bundespräsident begrüßt die lebendige deutsche Demokratie. © Boris Roessler/dpa

Mit einem Festakt erinnern der Bund, das Land Hessen und die Stadt Frankfurt an das erste deutsche Parlament in der Paulskirche im Mai 1848. Das Staatsoberhaupt mahnt, für Freiheit zu kämpfen

Demokratie für alle“. Der Satz schwebt im Wind an einer der 48 Platanen auf dem Paulsplatz in Frankfurt am Main. Bänder schmücken die Bäume mit Gedichten und Gedanken, die Bürgerinnen und Bürger über die Demokratie verfasst haben. Sie versetzen Passantinnen und Passanten direkt in Stimmung. Frankfurt feiert 175 Jahre Demokratiegeschichte in Deutschland. „Demokratie ist ein Privileg und ein Prozess, keine Institution, die für die Ewigkeit in Stein gemeißelt ist“, fasst ein junger Mann im Vorbeigehen zusammen. Deswegen will er heute auch feiern.

Vom 18. bis 21. Mai zelebriert die Stadt das Jubiläumsjahr. Vor 175 Jahren trat das erste frei gewählte Parlament Deutschlands in Form der Nationalversammlung in der Paulskirche zusammen. Mit einem Ziel: eine freiheitliche Verfassung für das ganze Land zu entwerfen. Auch wenn sie nie in Kraft trat, legte die Paulskirchenverfassung 1848/1849 den Grundstein für die deutsche Demokratie.

Beinahe 160 Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Zwei Millionen Euro hat die Stadt für das Paulskirchenfest zur Verfügung gestellt. Auch das Bundesinnenministerium, das Land Hessen und Sponsoren aus der Wirtschaft unterstützen die Feierlichkeiten. Zelebriert wird auf dem Paulsplatz, in der Paulskirche, auf dem Römerberg, im Römer, am Mainkai, in zahlreichen Institutionen und Museen gibt es Programme.

Der Staatsakt fing aber Donnerstag an. Und zwar pünktlich um 11 Uhr in der Paulskirche. Nach einer fast feierlichen Stille kündigt eine Stimme aus dem Lautsprecher die Ankunft des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an, der von einem stehenden Publikum begrüßt wird.

„Demokratie und Liberalismus gehören zusammen. Eine Demokratie ohne Liberalität ließe die Mehrheit despotisch werden und nähme der Minderheit letzten Endes ihre Rechte. Und ein Liberalismus ist nur dann wirklich demokratisch, wenn es um das Wohlergehen aller geht; wenn nicht nur Eliten, sondern alle ihre Rechte in Anspruch nehmen können“, betont Steinmeier in seiner Festrede vor rund 600 Gästen, darunter Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Ministerpräsident Boris Rhein sowie Landtagspräsidentin Astrid Wallmann und Frankfurts neuer Oberbürgermeister Mike Josef. Außerdem im Publikum: die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde, Volker Kauder, der die Kommission zu Frankfurter Paulskirche leitete und der Philosoph Michel Friedman.

Der Saal der äußerst schlicht wiederaufgebauten Kirche ist fast voll besetzt. Ein historischer Ort, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit wenig Geld wiederaufgebaut wurde, um 1948 wieder zu eröffnen. Ganz Deutschland habe zur Sanierung beigetragen, betont Oberbürgermeister Mike Josef in seiner Begrüßung. Einige Spender taten das auf durchaus originelle Weise: Die Stadt Offenbach spendete die Lederbezüge für die Sessel, Bad Orb 1000 Zigarren. „1848 ist ein entscheidendes Jahr – und es muss in unserer Erinnerung lebendig bleiben. Märzrevolution und Paulskirche sind große und folgenreiche Ereignisse der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte. Wir haben allen Grund, das zu feiern – auch als Zeichen gegen die Verächter unserer parlamentarischen Demokratie,“ unterstreicht Steinmeier. Der Saal stimmt mit einem Applaus zu. In Zeiten der Krise und des Vertrauensverlusts in die Demokratie ist es umso wichtiger der Bewegung von damals gerecht zu werden. „Unser Erbe“, wiederholen immer wieder die Redner:innen am Pult. Dieser Aufbruch war historisch. Es ging um Freiheit, Abkehr von Zensur und autoritären Zeiten, ehren die Rednerinnen und Redner die damaligen Abgeordneten und Mitstreiter:innen, die für Pressefreiheit, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit und die Gleichberechtigung der Konfessionen kämpften. Demokratie sei eben nicht selbstverständlich.

Der Kampf für das Frauenwahlrecht begann jenseits der Nationalversammlung. „Ohne diesen Kampf würden wir immer noch in der Galerie sitzen“, sagt Bärbel Bas. Es gab bei der Nationalversammlung eine Damengalerie mit 200 Plätzen für Frauen, was damals als fortschrittlich galt. Es stand außer Frage, dass sie sich an der Politik beteiligen. Zu den bekanntesten Aktivistinnen der damaligen Zeit gehörte Luise Otto-Peters.

Viele haben damals für mehr Rechte gekämpft. Frauen, Arme, Minderheitengruppen. Vor 175 Jahren gehörte das Parlament ausschließlich männlichen Bürgern und zwar nur denjenigen mit Besitz. Arbeiter waren in der Paulskirche nicht vertreten. Das Fest der Paulskirche ist auch eine Gelegenheit, all den Menschen zu gedenken, die für ihre Rechte gekämpft haben.

Damals habe man für Wahlrechte gekämpft, und heute kämpfe man dafür, dass Menschen wählen gehen, sagt Boris Rhein. Mike Josef ergänzt: „Die Demokratie braucht eine sozialstaatliche Grundlage, denn wenn ich eine angemessene Wohnung habe, wenn ich meine Kinder in gute Schulen und Sportvereine schicken kann, nur wenn ich mich in Krankenhäusern gut versorgt fühle und keine Angst um meine Zukunft habe, dann bin ich offen und bereit für eine demokratische Mitsprache und Beteiligung. Gleichberechtigte Teilhabe ist konstitutiv für unsere Demokratie und unser Staatwesen.“ Wer sich vom Leben wenig verspricht, hat auch ein geringes Vertrauen in den Institutionen. Demokratie sei aber für alle. Davon hänge die Legitimität der Institution ab. Deswegen plädiert Stadtverordnetenvorsteherin Hilime Arslaner für ein kommunales Wahlrecht für alle.

Steinmeier ruft dazu auf, global zu denken. „Solange die Freiheit nicht in allen Ländern blüht, kann sie in einem einzelnen nicht gedeihen. Und der Geist der Frankfurter Nationalversammlung muss in vielen Herzen und Nationen lebendig sein, wenn er überhaupt lebend bleiben soll.“ Angesichts des verbrecherischen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine könnte nichts aktueller und notwendiger sein als diese Solidarität der Demokrat:innen in Europa.

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