Virologe Streeck: Das Virus ist der Feind, nicht der Mensch

Der Virologe Hendrick Streeck spricht im Interview über den Ausbruch und die Eindämmung des Corona-Virus, die Lehren aus der Pandemie und einen Umbau der Infektionsschutzbehörden.
Herr Professor Streeck, die Corona-Pandemie scheint vorbei zu sein. Können wir durchatmen oder müssen wir jederzeit mit einer neuen Pandemie rechnen?
Es lassen sich die Entstehungen von Pandemien leider nicht vorhersagen. Es kann sein, dass wir in den nächsten Jahren wieder eine Pandemie erleben, es können aber auch hundert Jahre vergehen, bis die nächste kommt. Trotzdem ist es sinnvoll, sich darauf vorzubereiten und zu versuchen, Pandemien so gut es geht zu verhindern oder sie zumindest schnell einzudämmen, wenn es zu einem Ausbruch kommt.
Welche Faktoren begünstigen das Entstehen einer Pandemie?
Wir schätzen, dass es rund 1,7 Millionen Viren gibt, die wir noch nicht kennen. Davon schätzen wir, dass 400 000 humanpathogen sein können, was bedeutet, dass sie für den Menschen eine potenzielle Gefahr darstellen. Das enge Zusammenleben von Mensch und Tier erleichtert den Übertritt eines solchen Erregers auf den Menschen. Das wird begünstigt durch Wildtierhandel und Rodungen tropischer Wälder, wo es viele bislang noch unbekannte Tierarten gibt, insbesondere Nagetiere. Artenschutz hat deshalb auch immer etwas mit Pandemieschutz zu tun, das sollten wir uns vor Augen halten. Das funktioniert aber nur, wenn an den entsprechenden Stellen die entsprechenden Entscheidungen getroffen werden. Das auf den Weg gebrachte Artenschutzabkommen der UN ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung, aber es sollte noch mehr getan werden.
Sie gehen davon aus, dass eine mögliche nächste Pandemie wieder durch eine Zoonose ausgelöst wird, also durch eine Infektionskrankheit, die von einem Tier auf einen Menschen überspringt?
Es ist das wahrscheinlichste Szenario, aber das muss nicht so sein. Grundsätzlich ist auch eher mit einer Viruspandemie zu rechnen als mit einer, die von einem Bakterium oder einem Pilz ausgeht, wie zum Beispiel dem multiresistenten Pilz Candida auris. Natürlich sind solche Erreger problematisch, wenn sie multiresistent geworden sind und auf gängige Medikamente nicht mehr reagieren. Man spricht deshalb auch von einer „stillen Pandemie“, weil weltweit unzählige Menschen an multiresistenten Infektionen erkranken und sterben. Trotzdem muss man einschränkend sagen, dass wir bei bakteriellen oder Pilzinfektionen in den allermeisten Fällen doch noch Behandlungsmöglichkeiten durch Reservemedikamente haben, was eine solche Form der Pandemie in naher Zukunft unwahrscheinlich erscheinen lässt. Im Fall des Candida-auris-Pilzes sehen wir, dass er zwar extrem gefährlich und sogar tödlich sein kann, aber hauptsächlich Menschen betrifft, deren Immunsystem nicht richtig arbeitet.
Welche Art von Viren haben Sie auf dem Schirm? Vor Corona war es das Schreckensszenario, dass sich das Vogelgrippevirus so verändern könnte, dass es auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann.
Influenzaviren an sich haben Pandemie-Potenzial, schon alleine von ihrem Aufbau her. Ich vergleiche das gerne mit Luftschlange und Konfetti: Wenn das Coronavirus vom Genom her eine Luftschlange ist, hat die Grippe eher ein Lamellen-Konfetti als Genom. Es ist möglich, sich gleichzeitig mit verschiedenen Grippeviren anzustecken, auch Tiere können sich infizieren, zum Teil mit anderen Grippeviren, etwa dem Erreger der Vogelgrippe. Dann kann es passieren, dass die Grippeviren das Konfetti untereinander austauschen. Wenn dann ein Grippevirus des Vogels einen Menschen infiziert hat, sorgen uns Sprungmutationen, wodurch die Übertragung von Mensch zu Mensch erleichtert werden könnte. Das ist bisher nicht passiert, muss man aber genau beobachten. Man sollte allerdings auch die Kirche im Dorf lassen. Seit 2003 beobachten wir die Vogelgrippe sehr genau. Es gab zwar seither zirka 860 Infektionen beim Menschen. Aber eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist bislang nur sehr selten aufgetreten. Es ist kein Szenario, das plötzlich vor der Haustür steht und droht. Was ich mir auch vorstellen kann, ist, dass wir durch das Auftauen von Permafrost wieder auf alte Erreger stoßen. Dabei könnten unter anderem auch Ursprungsversionen von Viren auftauchen, mit denen wir bereits Kontakt hatten, die sich aber in der Zwischenzeit erheblich angepasst haben. Ein alter Bekannter könnte dann wieder gefährlich werden. Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass zum Beispiel die Pocken wiederkommen, die zwar ausgerottet sind, aber natürlich noch in Leichen und wenigen Laboren vorkommen.
Was ist mit Coronaviren?
Sie haben zwar immer noch ein gewisses Potenzial, aber nicht mehr den gleichen Stellenwert. Die Immunität in der Bevölkerung ist inzwischen hoch.
Sie sagen, dass ein Risiko vom engen Zusammenleben von Mensch und Tier ausgeht. Im Fall von Corona wird aber auch diskutiert, dass das Virus aus einem Labor im Wuhan Institute of Virology entwichen sein könnte. Was halten Sie von dieser Theorie?
Beide Theorien – natürlicher Ursprung und Laborunfall – liegen auf dem Tisch, und meiner Ansicht nach kann weder das eine noch das andere ausgeschlossen werden. Das schuldet man als Wissenschaftler auch der objektiven Sichtweise auf die vorhandenen Indizien. Auf der einen Seite wurde bei Proben von genetischem Material, das Forscher 2020 auf dem Wildtiermarkt in Wuhan gesammelt haben, die DNA von Marderhunden im gleichen Teströhrchen nachgewiesen wie das Coronavirus. Das ist das vielleicht stärkste Indiz, neben der Tatsache, dass manche Fledermäuse ein Virus in sich tragen, das Sars-CoV-2 zu gut 97 Prozent ähnelt und über einen Zwischenwirt zum Menschen gelangt sein könnte. Auf der anderen Seite stehen die Indizien, dass drei Mitarbeiter des Labors im November 2019 wohl an einer Art Grippe erkrankt waren und es Hinweise von Telefondaten gäbe, dass das Institut geschlossen wurde. Als Argument für einen Laborunfall wird auch oft die Furin-Spaltstelle genannt, die dem Virus den Eintritt in die Zelle erleichtert, und in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, ob das künstlich eingefügt wurde. Ich erkenne allerdings nicht, worin der wissenschaftliche Mehrwert liegen könnte, diese Mutation im Virus einzufügen. Manchmal wird auch unterstellt, es könne sich um Biowaffen-Forschung gehandelt haben, aber eine solche Annahme ist hanebüchen. Ich halte einen Laborunfall für möglich, sehe aber einen natürlichen Ursprung bei weitem als wahrscheinlicher an.
Zur Person
Hendrik Streeck (45) ist Direktor des Instituts für Virologie am Bonner Universitätsklinikum und darüber hinaus Leiter des von ihm gegründeten Instituts für HIV-Forschung. Er gehörte dem Corona-Expertenrat der Bundesregierung an und ist Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Aids-Stiftung. pam
Die Diskussion um die Furin-Spaltstelle des Coronavirus stand im Zusammenhang mit der Gain-of-Function-Forschung, bei der im Labor die biologischen Eigenschaften von Viren verändert und „verbessert“ werden. Sollte man diese Art von Forschung stärker reglementieren?
Das ist eine sehr schwierige, kontroverse Diskussion, die aber geführt werden muss – auch deshalb, damit die Virologie nicht als Fach Schaden nimmt. Wir müssen darüber reden, welche Art von Gain-of-Function-Forschung es gibt, was sinnvoll ist und wo die Grenzen verlaufen sollen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn man gezielt eine Mutation in die Omikron-Variante einbringt, um die Subvariante XBB.1.5 zu bekommen und zu untersuchen – ist das Gain-of-Function? Bringt es einen Vorteil, weil man sich vor die Evolution des Virus katapultiert und dann schneller auf eine neue Variante reagieren kann? Tatsächlich kenne ich aber auch nur ganz wenige Wissenschaftler, die aktiv Gain-of-Function-Forschung betreiben. Diese Forschung wird nur sehr selten und wenn dann nur in Hochsicherheitslaboratorien durchgeführt. Beunruhigender wäre, wenn Gerüchte stimmen würden, dass Tiere aus dem Labor auf dem Markt in Wuhan verkauft wurden. So etwas darf nicht passieren und muss international stark reglementiert und überprüft werden. Eine solche Schnittstelle, dass Tiere aus dem Labor wieder in die Umwelt und in die Kochtöpfe gelangen, wäre enorm gefährlich.
In den ersten Monaten gab es keine Impfstoffe und keine antiviralen Medikamente. Kann man für die Zukunft vorarbeiten, etwa in Form universeller Impfstoffe?
Es gibt eine ganze Reihe von bekannten Erregern, die potenziell eine Gefahr darstellen. Hier proaktiv in Impfung und Medikamentenentwicklung zu investieren, ist meiner Ansicht nach sinnvoll, um künftig gegen Ausbrüche gewappnet zu sein. Da ist momentan Schwung reingekommen. Ganz anders im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Ich werde nie vergessen, als ich im November 2019 mit einem amerikanischen Kollegen gesprochen hatte, dessen Forschungsantrag, einen universellen Corona-Impfstoff zu entwickeln, abgelehnt wurde. Kurz vor der Pandemie … Heute steht ein solcher Impfstoff ebenso wie ein universeller Grippe-Impfstoff ganz oben auf der Liste der wünschenswerten Impfstoffe. Viele Kollegen, unter anderem am NIH (National Institutes of Health) in den USA arbeiten daran, gegen gut 65 Viren Impfstoffe und neutralisierende Antikörper als Medikamente zu entwickeln, damit man einen Vorsprung hat, falls diese Viren sich einmal verbreiten. Wichtig ist aber auch ein gutes Monitoring von Erregern. Ausbrüche müssen analysiert und im Auge behalten werden. Hier brauchen wir eine durchsetzungstärkere WHO und auch ein Robert Koch-Institut, dass willens ist, Ausbrüche früh zu erkennen und vor Ort zu bekämpfen.
Welche Lehren kann man aus der Pandemie ziehen? Es lief nicht alles gut …
Darüber könnte ich Stunden sprechen. Für mich gibt es einige ganz offensichtliche Lehren. Erstens, und das klingt banal, müssen wir begreifen, dass eine Pandemie nicht nur durch den Erreger allein bestimmt wird, sondern dass auch wir Menschen daran beteiligt sind. Es nützt also nichts, Maßnahmen zu fordern, wenn die Bevölkerung sie nicht für sinnvoll hält. Zweitens, natürlich sind Experten wie Virologen gefragt, es müssen aber künftig auch viel stärker andere Fachleute eingebunden werden: Soziologen, Psychologen, Kommunikationsforscher, Wirtschaftsweise, vielleicht sogar Philosophen. Drittens, Wolfgang Schäuble hat in der Anfangszeit der Pandemie sehr treffend gesagt, dass der Infektionsschutz nicht an oberster Stelle stehe, sondern die Würde. Der Umgang mit einigen Menschen während der Pandemie war wenig würdevoll. Zum Beispiel sind viele alte Menschen ohne menschliche Nähe und vereinsamt gestorben. Das ist grausam. Ebenso haben wir Fehler bei den Kindern gemacht. Viertens, das Virus ist der Feind. Nicht der Mensch. Zu Beginn der Pandemie gab es einen starken anti-asiatischen Rassismus, später waren es die Menschen aus Heinsberg und Gütersloh. Dann wurden die Ungeimpften wie Aussätzige behandelt. Sie wurden aus dem gesellschaftlichen Leben nahezu ausgeschlossen. Wir als Demokratie haben in einigen Bereichen kein gutes Bild abgegeben. Das ist etwas, worüber wir reden müssen und woraus wir Lehren ziehen müssen. Generell brauchen wir eine gute Aufarbeitung der Pandemie. Das darf aber nicht so aussehen, dass wieder einzelne Schuldige gesucht werden. Vielmehr müssen wir als Gesellschaft lernen, wie wir in Zukunft mit solchen Situationen besser umgehen. Wenn man es historisch betrachtet, sind wir einigen Dingen schon einmal schlauer gewesen.
Sie selbst standen zeitweise im Fokus der Kritik wegen ihres vermeintlich zu lockeren Umgangs mit Corona; es reichte bis zum Hashtag #SterbenmitStreeck bei Twitter. Unter anderem plädierten Sie für den gezielten Schutz vor allem der Vulnerablen statt für einen harten Lockdown und äußerten sich skeptisch zur No-Covid-Strategie, womit Sie dann ja doch richtig lagen. Wie blicken Sie heute auf diese Zeit?
Das Problem liegt von Beginn an in der monothematischen Sichtweise. Andere Experten kamen bei ähnlichen Fragestellungen sehr früh bereits zu anderen Schlussfolgerungen, aber sie wurden nicht gehört. Aufgeheizt von einzelnen Experten und mit einem starken medialen Druck, wurde in richtige und falsche Experten unterschieden. Das ist hochproblematisch, da diese Schwarz-Weiß-Einteilung den Graubereich der Wissenschaft genommen hat. Mir geht es auch nicht darum, im Nachhinein recht zu bekommen, sondern darum, wie die Gesellschaft sich in dieser Zeit hat leiten lassen.
Sie sprechen davon, dass das Robert Koch-Institut gestärkt werden müsse. An dessen Arbeit gab es vor allem 2021 und 2022 viel Kritik. Welche Veränderungen sollte es Ihrer Ansicht nach dort geben?
Das Problem ist, dass das Robert Koch-Institut nicht unabhängig ist, sondern gegenüber dem Gesundheitsminister weisungsgebunden. Das bedeutet zunächst einmal, dass keine unabhängige wissenschaftliche Beratung erfolgen kann, aber auch die Forschung an ihre Grenzen stößt, es nicht forschungswillig und nicht forschungsfähig ist. Ich wünsche mir, dass das RKI unabhängig aufgebaut wird und beratend tätig ist. Es muss eine Bundesbehörde bleiben, um Zugang und Analysemöglichkeit von bestimmten Daten haben zu können. Ich würde mir wünschen, dass man das RKI so ausstattet, dass es auf die Leitungsstelle richtig viele Bewerber gibt. Es wäre meiner Ansicht nach falsch, die Stelle aus dem Haus heraus zu besetzen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es ein „Weiter so“ geben wird. Ich glaube aber auch, dass das ein großer Fehler ist. Dabei gäbe es jetzt eine einmalige Chance: Nicht nur die Spitze des RKI wird neu besetzt, auch die er Ständigen Impfkommission, des Paul-Ehrlich-Instituts und des Friedrich-Löffler-Instituts. Da könnte man, ohne dass man einzelnen Personen auf den Schlips tritt, überlegen, wie man das alles generell besser und effektiver aufstellt. Allerdings glaube ich leider nicht, dass das kommen wird.