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Unsichtbar und gefährlich

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Von: Joachim Wille

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Plastik aus dem Magen einer Meeräsche: Für gewöhnlich ernähren sich die Fische von Algen, kleinen Krebsen oder Muscheln.
Plastik aus dem Magen einer Meeräsche: Für gewöhnlich ernähren sich die Fische von Algen, kleinen Krebsen oder Muscheln. © rtr

Deutsche Forscher weisen auf ein bisher kaum beachtetes Problem hin: Autoreifen sind eine der Hauptquellen von Kunststoffmüll in der Umwelt.

Plastiktüten stehen auf dem Index. Viele Supermärkte haben sie abgeschafft und wo es sie noch gibt, kosten sie meist Geld. Auch die EU-Kommission wird aktiv, sie hat eine „Plastikstrategie“ aufgelegt, die den Kunststoffmüll verringern und das Recycling verbessern soll. Ist damit alles auf gutem Weg, um die „Plastikkrise“ zu beenden? Verschwinden die Müllstrudel auf dem Meer? Treibt bald weniger Plastik die Flüssen runter? Belastet Mikroplastik bald unsere Böden und die Luft nicht mehr? Eher nein.

Das Problem: Die Hauptquellen der Belastung sind bisher gar nicht im Fokus der Politik, das zeigt eine neue Untersuchung. So gelangt zum Beispiel weit mehr Kunststoff durch den Abrieb von Autoreifen in die Umwelt als etwa durch weggeworfene Plastiktüten oder Kunststoffflaschen. Es ist eine unerwartet große Menge an Stoffen, die als Umweltverschmutzer bisher kaum berücksichtigt wurden.

 330.000 Tonnen Mikroplastik - pro Jahr 

Die Dimensionen hat jetzt das Fraunhofer-Institut für Umwelt, Energie und Sicherheitstechnik (UMSICHT) in Oberhausen aufgezeigt. Pro Jahr sind es in Deutschland rund 446.000 Tonnen, so eine neue Studie. Fast drei Viertel – genau 74 Prozent respektive 330.000 Tonnen – werden als Mikroplastik abgegeben, das heißt in Form von maximal fünf Millimeter großen Teilchen. Davon ist dreimal mehr im Umlauf als der klassische Plastikmüll, den Zeitgenossen unsachgemäß auf die Straßen oder in die Landschaft „entsorgen“ oder der auf anderen Wegen in die Umwelt gelangt – und am Ende ebenso zu Mikroplastik zerfallen kann.

Insgesamt 51 potenzielle Kunststoffquellen haben die Fraunhofer-Forscher unter die Lupe genommen. Doch nicht die vieldiskutierten Kunststoffzusätze von Kosmetika und Minifasern aus Synthetik, die in den Flüssen oder im Klärschlamm auf den Ackerböden landen, liegen auf Platz eins. Hier findet sich vielmehr mit großem Abstand der Reifenabrieb von Autos, Lastwagen, motorisierten Zweirädern und Fahrrädern.

Die fast 64 Millionen alleine in Deutschland zugelassen Fahrzeuge sowie die ausländischen Pkw und Lkw, die über hiesige Straßen fahren, geben im Jahr knapp 100.000 Tonnen Plastik ab. Hauptursache ist der ganz normale Abrieb, der die Haftung der Reifen auf der Straße sichert. „Wenn er das nicht machen würde, würde die Haftung sinken und wir würden aus der Kurve fliegen und nicht auf der Straße bleiben“, erläutert Ralf Bertling, Fraunhofer-Mitarbeiter und Mitautor der Studie.

109 Gramm Plastik durch Schuhsohlenabrieb 

Überhaupt vermittelt die Studie einen ganz neuen Blick auf die Debatte über Kunststoffe. Neben dem Reifenabrieb kommen weitere bisher kaum beachtete „Produzenten“ von Mikroplastik in den Blick – darunter Sportplätze mit Kunstrasenbelag, mit Kunststoffen verschmutzter Kompost, Hausfassaden, Bauschutt und Medikamente – und die Fußgänger.

Jeder Bundesbürger trägt mit seinem Schuhwerk zu Kunststoffemissionen bei. Das Institut UMSICHT hat hochgerechnet, dass beim Laufen pro Jahr im Durchschnitt 109 Gramm Abrieb von den Schuhsohlen anfallen. Damit schafft es diese Quelle sogar auf den siebten Platz in der 51er-Liste. Zum Vergleich: Der Reifenabrieb erzeugt, umgerechnet pro Kopf und Jahr, 1228,5 Gramm, wovon der Pkw-Abrieb mit 998 Gramm den Löwenanteil ausmacht.

Doch das „Makroplastik“ – also Plastiktüte und Co. – wird durch die Untersuchung nicht freigesprochen. Die zweitwichtigste Quelle von Kunststoffen in der Umwelt sind nämlich ungewollte Freisetzungen aus der Abfallentsorgung. Wenn zum Beispiel Kunststoffe aus Versehen in die Kompostierungsanlage gelangen – etwa durch Fehlwürfe in die Biotonne -, werden sie dann mit dem fertigen Kompost auf Äcker oder in Hausgärten verteilt. Auch die Zerkleinerung von Altkunststoffen, zum Beispiel aus der Grüne-Punkt-Sammlung für ein späteres Recycling, spielt hier eine Rolle, weil hier ebenfalls viele der kleinen Teilchen in die Umwelt gelangen.

Doch auch die Kunststoffproduktion selbst trägt zur Verschmutzung bei. Die sogenannten Kunststoffpellets – einige Millimeter große Partikel, die eingeschmolzen als Rohmaterial für die Produkte dienen – sind laut der Fraunhofer-Studie ebenfalls eine der Hauptquellen. Zwar geht beim Transport und in der Produktion nur ein sehr kleiner Teil verloren. Doch da insgesamt in Deutschland pro Jahr rund zehn Millionen Tonnen Kunststoffe verbraucht werden, summiert sich der „Schwund“ zu stattlichen Mengen. Das bringt Platz vier in der Liste.

Mikroplastik macht krank 

Dass das Mikroplastik Menschen und Umwelt belastet und deswegen vermieden werden soll, ist unbestritten. Der Feinstaub zum Beispiel, der beim Abrieb aus Autoreifen auch entsteht, kann Atembeschwerden auslösen und erhöht das Risiko für Lungenerkrankungen bis hin zum Lungenkrebs sowie für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, darunter Herzinfarkte. In der Umwelt reichert sich das Material ebenfalls an.

Wissenschaftler finden Mikroplastik auf Ackerböden, in Flüssen und Meeren. So zeigte sich bei Untersuchungen von Elbe-Wasser, dass über die Hälfte der Kunststoffrückstände darin vom Reifenabrieb stammten und ein Drittel vom Textilabrieb, wie der Lüneburger Chemieprofessor Michael Braungart berichtet. 

Laut Bundesumweltministerium wurden bei einer Untersuchung am Meeresboden in der südlichen Nordsee im Durchschnitt elf Kilogramm Müll pro Quadratkilometer gefunden, der Großteil davon Makro- und Mikroplastik. Die kleinen Plastikteilchen wirken dabei wie eine Art Magnet für Giftstoffe im Wasser. An Mikroplastik konnten bis zu tausendfach höhere Schadstoffkonzentrationen gemessen werden als im Umgebungswasser. Und da die Partikel von Fischen und anderen Meereslebewesen aufgenommen werden, landen sie am Ende wieder beim Konsumenten auf dem Teller.

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