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Harte Buchmessen-Debatten: „Pseudo-Pazifismus“ - und der Westen als Putins Steigbügelhalter?

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Von: Florian Naumann

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Der Ukraine-Krieg dominiert auch die Leipziger Buchmesse - samt Kritik an Waffenlieferungs-„Zirkus“ und Realitätsverweigerung des Westens.

Leipzig – Und sie dreht sich doch - die Erde. Und die Lebensrealität in Europa. Besonders deutlich greifbar ist das, wenn der stete Fluss der Debatten und Betrachungen kurz einmal innehält: Die Leipziger Buchmesse hat drei Jahre lang pausiert, wegen Corona.

Zum Neustart am letzten Aprilwochenende 2023 ist dieser Stopp bereits nur noch Randnotizen wert. Stattdessen haben in den Messehallen viele kluge Menschen über ein anderes Thema debattiert: Über den Ukraine-Konflikt, über Russland, über Europa in der Krise. Das hatte sich bei der Ausgabe 2019 so wohl noch keiner ausgemalt. Auch, wenn der Krieg im Donbass damals schon längst im Gange war und die Krim völkerrechtswidrig annektiert.

„Russland hat uns den Krieg erklärt“: Ukrainische Autorinnen wundern sich über das eigene „Vergessen“

Nun ist (fast) alles anders. 2023 hat die Ukraine ein eigenes Podium bekommen. Auch der Leipziger Buchpreis ging an eine kritische Autorin aus Russland. Und an Streit und Kontroversen mangelte es nicht. Harmlos war da noch der tiefe Zweifel an den unmittelbaren Eingriffsmöglichkeiten der Literatur. Sachte und auch harsche Kritik setzte es in den Debatten an Deutschlands und Europas Rolle oder am Wirtschaften des Westens. Von Russ:Innen und Ukrainer:Innen, aber auch von erklärten Pazifist:Innen. „Einseitig“ - wie bisweilen bemängelt - waren die in Leipzig vertretenen Positionen jedenfalls nicht.

Eine erste kleine Überraschung, aus westlicher Sicht: Offenbar waren sogar Teile der Ukraine 2019 vom Krieg mit Russland noch weitgehend unbeeindruckt - so schilderten es die ukrainischen Autorinnen Kateryna Mishchenko und Haska Sayyan. Mishchenko räumte im gemeinsamen Talk ein: In Teilen der Ukraine war trotz Donbass-Kämpfen und Krim-Annexion das Leben einfach weitergegangen. Den Schock nach der Annexion habe man beinahe vergessen: „Wie konnten wir das so lange nicht einsehen?“, fragte sie sich auf der Bühne des „Forum offene Gesellschaft“ in den Messehallen: „Russland hat uns den Krieg erklärt.“ Womöglich sei auch heute noch die Vorstellung einer großen ukrainischen Einigkeit ein „Konstrukt“. Klar sei aber immerhin: In Ruhe lebe im Land niemand mehr.

„Schuldkette“ in der Ukraine - und „Zirkus“ um Waffenlieferungen

Auch Sayyan - die in ihrem Roman „Hinter dem Rücken“ das Leben der Ehefrau eines Donbass-Freiwilligen schildert - beschrieb „verschiedene Welten“ in dem großen Land. Erst die Binnenflucht habe zwischen Lwiw und Charkiw Regionen miteinander in Kontakt gebracht, die sich bisher nur als „Stereotype“ kannten. Als „Schuldkette“ beschrieb Sayyan die großen psychologischen Einschnitte: Wer an die Front geht, habe ein schlechtes Gewissen seiner Familie, wer zu Hause bleibe, den Freunden und Verwandten an der Front gegenüber. Wer ins Ausland gehe, fühle eine Schuld an den Menschen in der Ukraine.

Sayyan hatte aber in ihrem Schlusswort auch eine Forderung an den Westen: Das Ziel könne nicht sein, dass möglichst viele Ukrainer sterben. Wenn sich der Westen nicht „physisch“ engagieren wolle, müsse er „auch alles tun“. Das forderte an anderer Stelle auch der Autor und Essayist Michail Schischkin ein. Der Westen müsse „alles für den Sieg der Ukraine tun. Nicht diesen Zirkus mit den Waffenlieferungen wie bis jetzt“, sagte er.

„Deutschland nicht das einfachste Land“ für die Anliegen der Ukraine

Die Ukraine hatte sogar ein großes eigenes Podium auf der Buchmesse bekommen. Gefördert hat es unter anderem von Bundesregierung - väterlich moderierend eingreifen wollen Akteure des Gastgeberlandes dabei aber offensichtlich nicht. Ukrainer:Innen moderierten hier Gespräche mit Ukrainer:Innen. Das zeigte andere Blickwinkel und Fragen; hinter dem Ringen um Waffenlieferungen und Friedenspläne. Der Autor und Filmemacher Igor Pomeranzew etwa berichtete von den zwiespältigen Gefühlen, in Frontnähe zu drehen: Das habe in ihm das Gefühl geweckt, genau das tun zu „müssen“ - aber auch die Frage, ob sich die Medien die Hände „an der Brust der sterbenden Soldaten wärmen“.

Die Autorin Ljubow Jakimtschuk berichtete auch, Deutschland sei „nicht das einfachste Land“, um über die Ukraine und ihre Nöte zu erzählen. In den USA etwa sei der Empfang wärmer, überwältigender, berichtete sie - Jakimtschuk war in Zusammenarbeit mit Hollywood-Star John Legend bei den Grammy Awards aufgetreten. Auch bei Begegnungen mit Künstlern aus dem ex-jugoslawischen Raum gebe es viel stilles und ausgesprochenes Verständnis. Dennoch sei es wichtig „zu erzählen“, auch in Deutschland.

Auch Ukraine-Kritiker bekommen in Leipzig das Wort: Schelte für Maidan und deutsche Medien

Dass die Debatte in Deutschland tatsächlich konflikthaft bleibt, bewies unter anderem der österreichische Historiker Hannes Hofbauer. Er stellte auf der Messe mehrfach das von ihm herausgegebene Buch „Kriegsfolgen“ vor - und rügte unter anderem einen „Rechtsruck“: In Russland, aber auch in der Ukraine und in Deutschland und Österreich - er spielte damit unter anderem auf die Aufrüstungsdebatten an. Hofbauer stellte gleichwohl auch klar: Es handle sich in der Ukraine um nichts anderes als einen russischen Angriffskrieg. Nur gebe es eben eine Vorgeschichte, meinte er.

Hofbauer streifte im „Forum Sachbuch“ die Geschichte oft erfolgloser ukrainischer Staatsgründungsversuche und die Maidan-Proteste. Diese seien in Form eines Widerstandes der Jugend angesichts der abrupten Abwendung vom Westen legitim gewesen, dann aber von rechtsextremen Kräften gekapert worden, behauptete er - und das Minsk-Abkommen von der Ukraine und dem Westen nie eingelöst worden. Hofbauer, der auch dann und wann bei KenFM oder bei RT auftritt, stellte provokativ anmutend zur Disposition, ob für Deutschland und Österreich wirklich die richtige Frage sei, was ein Land zur Verteidigung brauche, das „seit 2014 seine eigenen Bürger bombardiert, beispielsweise in Slowjansk“.

Die Medientheoretikerin Sabine Schiffer, eine der Autorin des Bandes „Kriegsfolgen“, verwies zugleich darauf, dass EU und Nato in Sachen Ukraine gemeinsam „communications“ betrieben, also „PR“. Auch die deutschsprachigen Medien rügte sie: Fakten seien zumindest oftmals „stereotyp“ ausgewählt. Wie politische Alternativen aussehen könnten, angesichts des unwidersprochenen Angriffskriegs Moskaus, ließen Hofbauer und Schiffer in ihrem 30-minütigen Vortrag im „Forum Sachbuch“ offen. Auch die russische Propaganda spielte bestenfalls eine Minimalrolle.

Putins Russland großteils nicht Teil der „modernen Menschheit“ - Autor Schischkin urteilt bitter

Die brachte in klaren Sätzen und wohl auch mit einer Portion Wut der Schischkin auf die Agenda. Informationen seien auch in Russland verfügbar, erklärte er. Allerdings sei ein großer Teil der Russinnen und Russinnen nicht der „modernen Menschheit“ angehörig: Man unterscheide nicht zwischen „Gut“ und Böse“, sondern denke in Stammeszugehörigkeiten. Den Betroffenen sei nicht begreifbar zu machen, dass sie 80 Jahre nach dem Sieg über Nazi-Deutschland nun selbst Faschist:Innen seien. Wer etwa ein Kind im Krieg verliere, habe die Wahl zwischen „zwei Wahrheiten“: Einmal heiße es, „Ihr Sohn ist ein Faschist“, einmal „Ihr Sohn ist ein Held“ - die Wahl sei für viele klar. „Diese Leute werden unsere Bücher nicht lesen“, konstatierte Schischkin bitter.

Die Mitdiskutantin und Buchpreis-Trägerin Maria Stepanova bemühte sich um eine etwas positivere Sichtweise: Es gebe wohl um die 30 Millionen Menschen russischer Herkunft im Land und in aller Welt, die sich gegen Wladimir Putin aussprächen. Das seien genug, um auf sie setzen und sie zu hören. Schischkin hoffte auf eine fernere Zukunft. Russland sei der Weltliteratur einen Roman schuldig - nicht aus seiner Feder, sondern von einem jungen Menschen, der Schlüsse aus dem Krieg ziehen werde. Vielleicht in ein, zwei Generationen sei dann wieder eine Annäherung möglich.

Maria Stepanova (2. v.l.) und Michail Schischkin (re.) bei ihrer Debatte auf der Leipziger Buchmesse.
Maria Stepanova (2. v.l.) und Michail Schischkin (re.) bei ihrer Debatte auf der Leipziger Buchmesse. © Florian Naumann

Schischkin rügte aber auch die Rolle des Westens: Nur dank ihm sei Putins Regime überhaupt dauerhaft möglich geworden. „Schmutziges Geld“ aus Russland habe man dankbar angenommen. Die Lehre daraus: „Mit großem Geld hört der Rechtsstaat auf“.

Vergiftete Fragen aus dem Publikum musste sich Schischkin ebenfalls anhören: Zunächst, warum die Russen als Faschisten zu bezeichnen seien - dann die nach einer Definition von Faschismus. Wer den Angriffskrieg unterstütze, sei Faschist, erklärte der Autor und Essayist - und gab die zweite Frage zurück: „Erklären Sie mir, was Faschismus ist“, forderte er, wohl angesichts des Debattenschauplatzes im Herzen Deutschlands. Ob der Putinismus mit Faschismus gleichzusetzen ist, ist tatsächlich umstritten. Zu verstehen ist die Debatte und Wortwahl aber zweifelsohne vor dem Hintergrund der Kreml-Propaganda: Sie will an den Zweiten Weltkrieg anknüpfen und brandmarkt die Regierung Wolodymyr Selenskyjs beleglos als „Nazis“.

Ukraine-Krieg: „Pseudo-Pazifismus“ - blendet die deutsche Gesellschaft harte Realitäten einfach aus?

Kurz vor Ende der Messe fiel bei einer geplanten Ukraine-Debatte Schriftsteller Ilja Trojanow als Teilnehmer aus. Der eingesprungene österreichische Publizist Karl-Markus Gauß hatte dann aber dennoch eine weitere Perspektive auf die Friedens-Debatten im deutschsprachigen Raum parat: Er sprach sich zwar grundsätzlich für „Gespräche“ aus, rügte aber auch eine „ganz starke pseudo-pazifistische Bewegung“. Der gehe es darum, sich „den eigenen Frieden im Alltag nicht rauben zu lassen“, argwöhnte er. Einen „Frieden zu jedem Preis“ zu schließen sei auch eine indirekte Anerkennung für „Russlands Militarismus“ warnte er. Es verletzte zugleich auch die Werte „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, fügte die deutsch-ukrainische Autorin Swetlana Lawotschkina hinzu.

Das „Ausblenden“ schmerzhafter Wahrheiten hatte am Abend zuvor auch Soziologe Stephan Lessenich vom Frankfurt Institut für Sozialforschung analysiert. „Die Krisen stoßen in die Mitte der Gesellschaft vor“, die Einschläge „kämen näher und nähmen an Häufigkeit zu“, sagte er - nicht nur mit Blick auf den Ukraine-Krieg, sondern gerade auch in Sachen Klimawandel und Migration. Noch habe der Westen die Machtposition um sich zu erlauben, „nicht wissen zu wollen, wie die Verhältnisse außerhalb und die Folgen des eigenen Handelns sind“, mahnte er.

Die Betonung lag auf dem „Noch“: „So wie der Krieg zurückkommt, schlagen viele Effekte der Wirtschaftsweise zurück“, warnte Lessenich. Trotzdem bestehe der Modus der Politik oft darin, „zu suggerieren, dass man etwa täte“ - in stillem Einvernehmen mit der Mehrheit der Gesellschaft. Die EU gebe etwa viel Geld dafür aus, mit ihrem Grenzregime, Stichwort Frontex oder auch „Türkei-Deal“, Teile der bitteren Realität aus dem Blickfeld zu halten. Ähnliches gelte für den Klimawandel. Der Weltuntergang sei zwar tatsächlich nicht nahe. Auszublenden, dass andere Weltregionen wesentlich früher die Puste ausgehen werde, sei aber zynisch, rügte Lessenich indirekt CDU-Chef Friedrich Merz.

Belarus als ausgeblendetes Problem: „2020 noch die großen Helden“

Wie viel ausgeblendet wird, erklärte indirekt auch der belarussische Autor Sasha Filipenko. Er stellte seinen Roman „Kremulator“ über den Direktor eines Moskauer Krematoriums zu Stalin-Zeiten vor - beruhend auf echten Dokumenten. Erschienen ist es beim Schweizer Verlag Diogenes. In der Schweiz stoße er immer wieder auf Rechtfertigungsdruck, wenn er über die Lage des weiterhin von Diktator Alexander Lukaschenko autoritär regierten Landes spreche, klagte er.

2020, bei den Protesten gegen die gefälschten Wahlen in Belarus, seien die Menschen dort für den Westen noch „die großen Helden gewesen“, mit dem Ukraine-Krieg sei das „mit einem Fingerschnippen“ vorbei gewesen. „Aber das eine Problem löst das andere nicht auf“, mahnte Filipenko mit Blick auf die unterdrückte Opposition in Belarus.

Dass sich die Welt trotzdem vorerst ganz „normal“ weiterzudrehen scheint, zeigte die Buchmesse in Leipzig natürlich auch. Etwa mit einer an dutzende Meter langen Schlange vor der Signierstunde des Thrillerautors Sebastian Fitzek. Oder in Person unzähliger bunt und ausladend kostümierter Manga-Fans auf dem Weg zur gleichzeitig stattfindenden Manga-Comic-Con. Zumindest Letztere waren aber durchaus auch in den Hallen der Sachbuch- und Aussteller zu sehen. (fn)

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