Neue Foltervorwürfe gegen russische Soldaten

Aus der besetzten ukrainischen Stadt Cherson berichten Menschen über Folterungen durch russische Soldaten. Moskau will sich zu den Vorwürfen nicht äußern.
Cherson – Zu Beginn des Ukraine-Kriegs übernahmen russische Truppen in wenigen Tagen die Kontrolle über Cherson in der Südukraine. Die ukrainischen Fernsehsender wurden schnell durch russische Staatssender ersetzt, westliche Produkte gegen russische Alternativen ausgetauscht. Inzwischen wird die Hafenstadt im gleichnamigen Oblast seit Anfang März von russischen Truppen besetzt.
Die BBC hat nun mehrere anschauliche Berichte von Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt gesammelt, in denen sie behaupten, gefoltert worden zu sein. Mehreren Angaben zufolge begannen auch Menschen zu verschwinden. Von einigen fehlt noch immer jede Spur.
Die Angst in und um die Hafenstadt ist groß. Zivilpersonen, denen die Flucht gelingt, löschen häufig sämtliche Fotos und Videos auf ihren Handys, um Schwierigkeiten an russischen Kontrollpunkten zu vermeiden. Olexander, ein Dorfbewohner, der von seiner Folterung berichtete, schickte die Bilder seiner Verletzungen vor ihrer Löschung an seinen Sohn im Ausland – um sie sicher aufzubewahren.
Ukraine-Krieg: „Sie legten mir einen Strick um den Hals“
„Sie haben mir einen Sack über den Kopf gestülpt“, sagte Olexander gegenüber einer BBC-Reporterin. „Die Russen haben mir gedroht, dass ich keine Nieren mehr haben würde.“ Olexander war Abgeordneter des nahegelegenen Dorfes Bilozerka, zuvor Wehrpflichtiger in der Armee. Während seine Frau an pro-ukrainischen Kundgebungen teilnahm, versuchte Olexander gemeinsam mit anderen Männern das Dorf vor den Invasoren zu verteidigen.
Nach der Machtübernahme dauerte es nicht lange, bis sie Olexander suchten und fanden. „Sie legten mir einen Strick um den Hals und einen weiteren um die Handgelenke“, sagte er. „Als ich ihnen nicht antwortete, schlugen sie mir zwischen die Beine. Als ich hinfiel, begann ich zu ersticken. Wenn du versuchst, aufzustehen, schlagen sie dich. Dann fragen sie wieder.“
Misshandlungen im Ukraine-Krieg: Journalist wurden vier Rippen gebrochen
Auch Oleh Baturin spricht über die Misshandlungen durch russische Truppen. Er war Journalist bei einer unabhängigen Zeitung in der Region Cherson. Bereits wenige Tage nachdem Russland das Nachbarland überfallen hatte, wurde er seiner Aussage nach entführt. „Sie bedeckten mein Gesicht und legten mir die Hände auf den Rücken. Sie schlugen mich auf den Rücken, die Rippen und die Beine... und schlugen mich mit dem Kolben eines Maschinengewehrs.“
Erst als Oleh später einen Arzt aufsuchte, stellte er fest, dass die Soldaten ihm vier Rippen gebrochen hatten. Weiter berichtete Oleh, dass er acht Tage lang inhaftiert gewesen sei und dabei andere Folterung sowie die Scheinhinrichtung eines jungen Mannes mitbekommen habe.
Vorerst leben in Olexander und Oleh in Sicherheit. Sie befinden sich beide in Gebieten, die von der Ukraine regiert werden – zumindest aktuell. Beide Männer stellten der BBC Fotos zur Verfügung, die sie als Polizeiberichte über die Misshandlungen bezeichneten.
Ukraine-Krieg: Arzt aus Cherson berichtet von schweren Verletzungen
Ein Arzt, der in einem Krankenhaus in Cherson arbeitet, kann einige der Foltervorwürfe gegenüber den russischen Soldaten bestätigen. „Es gab Anzeichen von Körperverstümmlung“, sagte er und nennt Hämatome, Abschürfungen, Schnittwunden, Anzeichen von Stromschlägen, Spuren von Fesseln an den Händen und Wunden am Hals. Auch Verbrennungen an Füßen und Hände habe er gesehen.
„Einige der schlimmsten waren Brandwunden an den Genitalien, eine Schusswunde am Kopf eines vergewaltigten Mädchens und Verbrennungen durch ein Bügeleisen auf dem Rücken und dem Bauch eines Patienten. Der Patient erzählte mir, dass zwei Drähte einer Autobatterie an seiner Leiste befestigt waren und man ihm sagte, er solle sich auf einen nassen Lappen stellen“, erzählte der Arzt weiter, der um Anonymität bat.
Doch dem Mediziner zufolge dürfte es sich dabei nur um einige von vielen Schwerverletzten handeln. Viele Menschen seien zu eingeschüchtert, andere werden von den Truppen bedroht. „Sie drohen damit, dass ihre Familien getötet werden, und schüchtern sie auf jede erdenkliche Weise ein.“ Viele der Betroffenen seien unter anderem gefoltert worden, weil sie „nicht auf die russische Seite übertreten wollten“ oder „weil ein Familienmitglied gegen die Separatisten gekämpft hat“.
Zustände im Ukraine-Krieg: Moskau äußert sich nicht zu Vorwürfen
Neben der BBC untersucht auch die UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission sowie die Human Rights Watch die Zustände in Cherson und der restlichen Ukraine. Seit Monaten häufen sich die Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Ukraine-Konflikt. Für internationales Aufsehen sorgten die Berichte aus dem inzwischen befreiten Butscha, einem Vorort von Kiew, wo es zu zahlreichen Hinrichtungen gekommen war.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow behauptete damals, Anfang April, dass es sich bei den Dokumentationen um „offensichtliche Fälschungen“ handele. Auf eine Bitte der BBC um eine Stellungnahme zu den Gräueltaten in Cherson hat das russische Verteidigungsministerium nicht reagiert. (nak)