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Ukraine: „Man hätte Butscha abriegeln und mit Aufklärungsdrohnen fotografieren müssen“

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Von: Dmitri Durnjew

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„Ganz Butscha, ganz Irpin sind Tatorte“, sagt Mamedow.
„Ganz Butscha, ganz Irpin sind Tatorte“, sagt Mamedow. © AFP

Der ukrainische Jurist Gjundus Mamedow über Kriegsverbrechen und deren Untersuchung.

Herr Mamedow, Sie waren in Charkiw, Sumi und Tschernihiw, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren, auch in den Kiewer Vororten Irpin und Butscha. Wie nehmen Sie solche Orte wahr?

Die Russen sind am 31. März abgerückt, wir waren am 1. April in Irpin, am 2. April in Butscha. Die Leute räumten schon auf, trugen Sachen weg. Aber ganz Butscha, ganz Irpin sind Tatorte. Als die Russen Butscha verließen, hätte man es komplett abriegeln und mit Aufklärungsdrohnen fotografieren müssen. Danach hätte man Minensucher hineinlassen können, dann Kriminalisten, Sprengstoffexperten und Gerichtsmediziner. Wenn in einem Haus jemand ermordet wird, sperrt man es ja auch ab, lässt selbst die Bewohner erst nach der Spurensicherung herein.

Bilder und Berichte aus Butscha und Irpin erschüttern. Immer öfter fällt das Wort Genozid.

Was bedeutet Genozid juristisch? Die teilweise oder völlige Vernichtung einer ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppe, oder den Aufruf, sie zu vernichten. Die Appelle der politischen Führung Russlands fußen auf der Behauptung, Ukrainer und Russen seien ein Volk. Das heißt, die ukrainische Nation gibt es nicht, sie wurde künstlich von Lenin geschaffen.

Das verkündete Wladimir Putin. Ruft er damit zum Genozid auf?

Direkte Aufrufe gibt es nicht. Aber wenn jemand wegen seines Geschlechts verdeckt erniedrigt wird, betrachten wir das ja auch als Diskriminierung. Wenn indirekt erklärt wird, eine Nation besitzt kein Existenzrecht, diese Nation hat es nie gegeben, warum gilt das nicht als Aufruf zur Vernichtung der Nation? Erst recht, wenn Massenmorde wie in Butscha oder Mariupol damit einhergehen.

Was droht Putin, der diesen Angriffskrieg begonnen hat?

Inzwischen ist dieses Verbrechen als Aggression im Römischen Statut des Internationalen Gerichtshof festgeschrieben, gegen große Widerstände. Weil alle Supermächte an solchen Aggressionen beteiligt waren, ob im Irak, in Libyen oder Syrien. Deshalb gibt es zwei Einschränkungen: Aggressionen vor 2020 verfolgt man nicht, und nur hinsichtlich Staaten, die das Römische Statut ratifiziert haben, also nicht Russland und die Ukraine.

Zur Person

Gjundus Mamedow , 47, gilt als führender unabhängiger Ermittler von Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Putin braucht sich also keine Sorgen zu machen?

Man will ja ein Tribunal eigens zur Verurteilung der Aggression gegen die Ukraine schaffen. Aber das ruft Zweifel hervor: Der Nürnberger Prozess wurde „Gericht der Sieger“ genannt. Nicht zu Unrecht fragten dort Vertreter der Wehrmacht, warum niemand Russland dafür bestraft, dass es polnische Generäle erschossen hat, oder die Alliierten für ihre Kriegsverbrechen bei der Landung in der Normandie. Jetzt droht der Vorwurf, da wolle ein Club der Russlandgegner Russlands Führer aburteilen.

Welches Gericht soll die Kriegsverbrechen dann ahnden?

Ich bin dafür, mithilfe einer Resolution der UN-Generalversammlung ein internationales Gericht auf dem Gebiet der Ukraine zu schaffen, etwa mit einem deutschen Richter als Vorsitzenden, einem Ankläger aus Belgien und einem Ermittler aus Italien, die UN-Generalversammlung kann auch einen Richter aus Russland ernennen. Dieses hybride Gericht wäre befugt, Aggression als Verbrechen zu verurteilen.

In diesem Krieg scheinen alle ein Smartphone dabei zu haben, das Internet ist voller Gewaltvideos. Sind Kriegsverbrecher jetzt leichter zu überführen?

Zuerst haben ja investigative Journalisten die im Internet offen zugänglichen Quellen genutzt. Anfangs gab es wahnsinnige Kritik an den Methoden, mit denen etwa Bellingcat den Abschuss der MH17-Boeing 2014 oder die Nowitschok-Anschläge gegen Alexej Nawalny aufgeklärt hat. Aber mir ist klar, dass wir die klassischen Fahndungsmethoden durch digitale Kriminalistik ergänzen müssen. Wir brauchen mehr IT-Fahnder, nicht nur um Cyberkriminalität zu bekämpfen, sondern auch um die offenen Quellen auszuwerten.

Sie ermitteln nicht nur gegen Kriegsverbrecher, Sie dienen auch in der ukrainischen Territorialverteidigung. Was sagen Sie als Jurist und Patriot, wenn ein ukrainischer Soldat einem halb toten Russen einen Kopfschuss gibt?

Kein Heroismus rechtfertigt ein Verbrechen. Es ist verboten, Wehrlose zu töten. Wenn es einer von uns tut, müssen wir auch gegen ihn ermitteln.

Interview: Dmytro Durnjew

Gjundus Mamedow (r.).
Gjundus Mamedow (r.). © VON

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