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Journalismus im Ukraine-Krieg: „Das ist eine kastrierte Form der Berichterstattung“

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Von: Max Müller

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Eine Journalistin informiert sich an der polnisch-ukrainischen Grenze über den Ukraine-Krieg.
Eine Journalistin informiert sich an der polnisch-ukrainischen Grenze über den Ukraine-Krieg. © Kay Nietfeld/dpa

Udo Lielischkies hat 13 Jahre für die ARD aus Moskau berichtet. Ein Interview mit dem Russland-Experten über Wladimir Putin, seine russische Familie und die Gefahr für den Westen.

Köln – Es gibt wenige Deutsche, die Russland* so gut kennen wie er. Udo Lielischkies ist 68 Jahre alt. 13 Jahre seines Lebens hat er in Moskau gelebt. Für die ARD* hat der WDR-Journalist Wladimir Putin* viele Jahre beobachtet – seit er 1999 Ministerpräsident Russlands wurde.

Für seine Reportagen hat Lielischkies viele Auszeichnungen erhalten. 2019 erschien sein Buch „Im Schatten des Kreml: Unterwegs in Putins Russland“. Seit 2018 lebt er im nordrhein-westfälischen Brühl – und muss aus der Ferne zusehen, was Russland im Ukraine-Krieg* anrichtet.

Herr Lielischkies, Ihre Frau ist Russin, sie haben zwei Töchter, die in Moskau aufgewachsen sind. Wie wird zu Hause über den Krieg gesprochen?

Meine Frau ist verzweifelt, ein Familienmitglied sagt wörtlich: „Ich schäme mich, Russe zu sein“. Der weibliche Teil meiner russischen Familie ist allerdings eher unpolitisch. Meine Frau, die mein Buch ins Russische übersetzt hat, versteht die gesamte Situation und versucht jetzt, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.

Und ihre Töchter?

Eine ist noch zu klein, die ältere interessiert sich eher für Kunst als für Politik.

Sie waren einer der ersten, der vor dem gewarnt hat, was in der Nacht zum 24. Februar passiert ist: Russland greift die Ukraine an. Haben wir die Situation alle falsch eingeschätzt?

Ich habe mit einer militärischen Aggression gerechnet, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Es hat genug Zeichen in der Vergangenheit gegeben. Alleine der Aufsatz von Wladimir Putin, geschrieben und verteilt vor einem halben Jahr an alle Armeeangehörigen, in dem er erklärt: Jede Trennung zwischen Russland und der Ukraine sei widernatürlich. Die Ukraine sei kein souveräner Staat, sie könne nur im Verbund mit Russland existieren. Jeder, der genau hingesehen hat, konnte die Fantasien von Putin sehen: Endlich zurück zu alter Stärke, endlich die so empfundene Demütigung des Westens rächen.

Welche Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine gibt es?

Das ist eine sehr komplizierte Frage. Nur ein Beispiel: In den letzten Tagen spielte das gute Wetter der russischen Luftwaffe in die Hände: Ihre Kampfjets konnten sehr hoch fliegen, außerhalb der ukrainischen Stinger-Raketen. Eine weitreichende Luftabwehr gibt es kaum. Es hängt also auch viel vom Westen ab und davon, welche Waffen wir liefern. Der ukrainische Präsident Selenskyj will Kampfpanzer und Kampfflugzeuge. Manche Militär-Experten sagen ebenfalls, verteidigen reiche nicht mehr. Es brauche auch Gegenattacken, um die Russen zurückzudrängen, etwa ihre Belagerung von Mariupol.

Und auf diplomatischem Wege?

Wenn kein klarer Sieg über Russlands Militär gelingt, droht vermutlich ein schmutziger Deal à la „Minsk 2“. Also schmerzhafte Zugeständnisse auch für die Ukraine. Die Frage ist: Zu welchen Kompromissen ist das ukrainische Volk überhaupt noch bereit, nach diesem gewaltigen Blutzoll, den es gezahlt hat? Die Stimmung in der Bevölkerung zurzeit heißt eher: Wir kämpfen bis zum Ende.

Deutschland und die Ukraine-Krise: „Wohlstandsverwahrlost und friedensverwöhnt“

In Deutschland sind vermehrt Panzer auf der Autobahn unterwegs*, es wird über einen „Iron Dome“ diskutiert, ein System zur Raketenabwehr nach israelischem Vorbild. Die Regierung will 100 Milliarden Euro zusätzlich zum regulären Wehretat in die Verteidigung stecken. Finden Sie das richtig?

Dass jetzt in Aufrüstung investiert wird, finde ich grundsätzlich richtig. Das irsraelische System „Iron Dome“ ist allerdings eher auf Raketen mit kürzerer Reichweite ausgerichtet. Russland besitzt aber Überschall-Raketen und Marschflugkörper mit viel größerer Reichweite. Es gibt daher Experten, die den „Iron Dome“ nicht für eine ausreichende Absicherung halten.

Manche Menschen haben Angst, dass die russischen Truppen weiter nach Westen vorstoßen. Sie auch? 

Das kann ich mir im Augenblick zumindest beim besten Willen nicht vorstellen, Putins Truppen sind ja selbst in der Ukraine stecken geblieben. Dennoch müssen wir anerkennen, dass wir seit Jahrzehnten so tun, als würde es diese Bedrohung nicht geben. Wir wollten in erster Linie gute Geschäfte mit Russland machen. Wir sind, das kann man wohl so deutlich sagen, teilweise wohlstandsverwahrlost und friedensverwöhnt.

In Kaliningrad stehen russische „Iskander“-Raketen. Die können atomar bestückt werden und in drei Minuten Berlin pulverisieren.

Ja, richtig. Um so erstaunlicher ist es, dass die russische Propaganda dem Westen immer nur die gegensätzliche Debatte aufgezwungen hat: inwiefern der Westen Russland bedroht. Das ist natürlich eine erfundene Bedrohung, das muss immer wieder klar festgehalten werden.

Das ist Udo Lielischkies

Udo Lielischkies wird 1953 in Köln* geboren. Nach dem Abitur studiert er Volkswirtschaft und Soziologie in Köln. 1980 wird er Wirtschaftsredakteur in Hörfunk und Fernsehen beim WDR. Ab 1994 berichtet er als Korrespondent aus Brüssel, 1999 wechselt er nach Moskau. Nach einer Station in Washington kehrt er 2012 zurück nach Russland. Von 2014 bis zu seinem Ausscheiden 2018 leitet er das ARD-Studio in Moskau.

Journalist Udo Lielischkies steht vor einer Glaswand bei der Frankfurter Buchmesse 2019.
Udo Lielischkies war bis 2018 ARD-Korrespondent in Moskau. © Imago Images

Wie Jörg Schönenborn ein Interview mit Putin vermasselte

Sie haben Putin persönlich kennengelernt. Was hatten Sie für einen Eindruck?

Ich habe Putin auf Pressekonferenzen gesehen, wenn Angela Merkel in Russland war. Dann durfte man auch als deutscher Journalist eine Frage stellen. Wirklich an ihn heran kommt man nicht.

Es gab immer mal wieder auf Interviews, die er deutschen Medien gegeben hat.

Das stimmt. Er spricht allerdings ausschließlich mit Chefredakteuren. Der offizielle Grund ist, dass er nur mit Leuten auf Augenhöhe redet. Ein Putin spricht nicht mit Laufburschen – das ist die Message.

Und der inoffizielle Grund?

Auch kluge Chefredakteure können sich nicht in kurzer Zeit in die tieferen Schichten einarbeiten. Bei Jörg Schönenborn (Anm. der Redaktion: damals Chefredakteur des WDR-Fernsehens) hat man gesehen, wie das nach hinten losgeht. Schönenborn fragte Putin nach „Pussy Riot“, der regierungskritischen Punkrock-Band. Putin entgegnete, dass „Pussy Riot“ eine antisemitische Veranstaltung organisiert habe. In Wahrheit war es eine Aktion gegen Antisemitismus. Aber Jörg Schönenborn war überrumpelt, weil er die Hintergründe dieser Jahre zurückliegenden Aktion schlicht nicht kannte. Armin Wolf vom ORF war in meiner Wahrnehmung bisher der einzige, der Putin wirklich überzeugend Contra gab.

Wladimir Putin privat: Nimmt er Steroide? Hat er Krebs? Wie viele Kinder hat er?

Wie muss man sich den Privatmann Wladimir Putin vorstellen?

Das ist ganz schwer zu sagen, da dringt wenig nach außen. Mit seiner mutmaßlichen Lebenspartnerin, eine Kunstturnerin, hat er angeblich vier Kinder, alle sollen in der Schweiz wohnen. Stimmt das? Ich weiß es nicht.

Es wird auch über den Krankheitszustand von Putin spekuliert.

Fiona Hill, die Russlandberaterin von mehrerer US-Regierungen und eine exzellente Kennerin Putins, schreibt in einem Aufsatz, er sei extrem vereinsamt, er sei hypochondrisch und werde vermutlich mit Steroiden behandelt. Was in der Tat nicht zu übersehen ist: Sein Gesicht wirkt sporadisch aufgedunsen. Es wird auch kolportiert, er habe Krebs. Allerdings: Mutmaßungen zu seinem Gesundheitszustand gibt es schon seit 20 Jahren.

Was oder vielmehr wer kommt eigentlich nach Putin?

Das weiß ich nicht. Was ich weiß – und das macht mir große Sorge: Der Nachfolger wird eine perfekt geölte Propagandamaschine in Zusammenspiel mit einem gnadenlosen Repressionsapparat vorfinden. Was auch immer er vorhat: Damit kann auch er die Bevölkerung leicht auf seine Seite ziehen.

Udo Lielischkies: „Viele Russen leben schlechter und sagen trotzdem, dass Putin Russland zu alter Stärke führt“

Kennen Sie das Chicken Game?

Den Begriff habe ich schon mal gehört, helfen Sie mir kurz auf die Sprünge.

Das ist ein Konzept der Spieltheorie. Zwei Autos rasen aufeinander zu. Wer zuerst ausweicht, verliert. Wenn keiner ausweicht, verlieren beide. Wir brauchen Gas und Öl aus Russland, Putin braucht die Devisen.

Sie spielen auf die Wirtschaftssanktionen an?

Anfang Februar sagten Sie, dass das unsere schärfste Waffe ist. Scheinbar interessiert Putin das wenig. Haben Sie die Wirkung überschätzt?

Gegenfrage: Sind die beschlossenen Wirtschaftssanktionen wirklich so scharf? Es gibt bei dem Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System Ausnahmen und wir schicken weiter Geld für Öl und Gas nach Russland. Die beschlossenen Sanktionen wirken mittelfristig. Sie können den Kriegsapparat lahmlegen, wenn Putin zum Beispiel keine Chips mehr geliefert bekommt, die er dringend für Waffensystem braucht.

Die Sanktionen sollen die russische Wirtschaft treffen. Darunter leidet die Bevölkerung, die dann von innen heraus für Veränderungen sorgt. Ist das realistisch?

Kurzfristig leider eher nicht. Viele Russen leben schlechter und glauben trotzdem, dass Putin Russland zu alter Stärke zurückführt. Und das gefällt vielen. Oder nehmen wir die Kirche: Die hat den Angriff auf die Ukraine zu einer Art „Heiligen Krieg“ erklärt. Sicher ist: Putins Krieg hat deutlich mehr Rückhalt in der Bevölkerung, als ich das ursprünglich wartet hatte. Auch viele Russen, die hier in Deutschland leben, sehen das so, scheint mir. Sie erzählen mir tatsächlich, dass Putin ein faschistoides Regime in Kiew bekämpft.

Udo Lielischkies: „Es gibt in Russland keine freie Presse mehr“

Gibt es für die Unterstützung Putins Belege?

Das sind viele anekdotische Eindrücke, auch Telefonate mit Bekannten in Russland, die sich aber summieren. Mit Zahlen aus Russland wäre ich vorsichtig. Juri Luschkow, ehemaliger Bürgermeister in Moskau, hatte während seiner Amtszeiten 70 Prozent Zustimmung. Nachdem er aus dem Amt geschieden war, meinten 70 Prozent: Wir sind froh, dass er weg ist.

Gibt es noch freie Presse in Russland?

Nein. Mit der „Novaya Gazeta“ hat jetzt auch die letzte kritische Informationsquelle schließen müssen. Die haben bis zuletzt gegen alle Widerstände angeschrieben. Sechs Kolleginnen und Kollegen sind über die Jahre ermordet worden, es gab düstere Warnungen wie einen Grabkranz und einen abgetrennten Ziegenkopf, der vor der Redaktion abgelegt wurde. Wer sich in Russland unabhängig informieren will, braucht längst Internet und einen VPN-Tunnel…

…man verschleiert damit online seine Identität.

Genau. Die ständige Lüge war immer schon Teil der russischen Regierungs-Kultur. Das Verhältnis von Staat und Bürger ist seit jeher geprägt von tiefem Misstrauen. Das war schon in der Sowjetunion so, getreu dem Motto: Die tun so als würden sie uns bezahlen und wir tun so als würden wir für sie arbeiten.

ARD im Ukraine-Krieg: „Das ist eine kastrierte Form der Berichterstattung“

ARD und ZDF wollen wieder aus Russland berichten, nachdem sie sich zurückgezogen hatten – aber nicht über den Krieg. Ist das eine Kapitulation?

Ich finde diese Entscheidung schwierig. Ehrlich gesagt verfolge ich das Programm nicht mehr so aufmerksam. Aber ja, es ist schon eine kastrierte Form der Berichterstattung. 

Sie haben über viele Krisen und Kriege dieser Welt berichtet. Wie fühlt sich das an, so weit weg zu sein?

Ich bin heilfroh darüber. 

In den sozialen Netzwerken wurden sie schon als Russenhasser und Kriegstreiber beschimpft, selbst im Freundes- und Bekanntenkreis finden Sie immer wieder Zustimmung zu Putins Politik. Haben Sie sich eigentlich schon mal für eine Sekunde gefragt, ob alle Kritiker recht haben und Sie falsch liegen?

Nicht grundsätzlich, bei einzelnen Phänomenen natürlich. Aber ich habe mich seit 22 Jahren so intensiv mit Russland und Putin beschäftigt – ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Welt vielleicht doch eine Scheibe ist. Nehmen Sie die viel zitierte Bedrohung Russlands durch die Nato-Osterweiterung: Klar, wenn sich ein Fünftklässler die Grafik mit den blau eingefärbten Ländern anschaut, die der Nato beigetreten sind, wird er sagen: Die Nato kommt Russland doch tatsächlich gefährlich nahe. Fakt ist aber, dass der „Versicherungskonzern“ NATO hier lediglich Schutz-Policen verteilt hat. Ich kann nicht erkennen, wo die Nato Russland jemals bedroht hat. Die wahre Bedrohung besteht für Moskau darin, dass sich Staaten an seiner Peripherie westlicher Demokratie annähern.

Seit 2018 sind sie im Ruhestand und ins Rheinland gezogen. Was unterscheidet Brühl von Moskau?

Die Frage ist eher: Wo gibt es keine Unterschiede? Meine Töchter müssen nicht mehr mit dem Bus eine Stunde durch das verstopfte Moskau fahren, um in die Schule zu kommen – hier sind es fünf Minuten zu Fuß. Es ist ruhiger, es ist weniger stressig. Aber genau das fehlt hier natürlich im Vergleich zu einer pulsierenden Megastadt. Meine Frau war doch etwas verblüfft über deutsche Ladenzeiten etwa. Moskau ist eine 24/7 Stadt. Aber Moskau ist auch im Zentrum extrem teuer, das Wohnen vor allem und in den hässlichen Schlafstätten am Rand möchte man auch nicht enden. Die etwas gemütlichere Kleinstadt Brühl ist dagegen auch mit einem kleineren Rentner-Einkommen noch finanzierbar. 

(Interview: Max Müller) *24RHEIN und fr.de sind Angebote von IPPEN.MEDIA.

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