Streitgespräch zu Putins Krieg: „Gemeinsame Werte mit Putins Russland gibt es erst einmal nicht“
Der frühere SPD-Abgeordnete Michael Müller und die Wissenschaftlerin Pia Fuhrhop im Streitgespräch über Auswege aus der militärischen Eskalation und Moskaus Rolle in einer europäischen Friedensordnung.
Berlin – Gibt es gemeinsame Interessen der Nato und Russlands? Lässt sich eine neue Architektur des europäischen Hauses bauen? Pia Fuhrhop, Sicherheits-und Verteidigungsexpertin, und der ehemalige SPD-Abgeordnete Michael Müller streiten über die Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg. Bascha Mika hat ihr Gespräch begleitet.
Frau Fuhrhop, Herr Müller, lassen Sie uns über den Krieg in der Ukraine reden.
Pia Fuhrhop: Wie bei vielen Menschen löst der Krieg auch bei mir Verunsicherung aus. Obwohl ich mich beruflich mit den Themen beschäftige, habe ich den Überfall auf die Ukraine so nicht für möglich gehalten. Seitdem muss ich einige meiner liebgewonnenen Annahmen hinterfragen. Mit dem Ergebnis, dass ich inzwischen auch bei anderen Dingen, die ich für unwahrscheinlich halte, meine Zweifel bekomme.
Michael Müller: Im Augenblick sieht es so aus, als könnte keine Seite den Krieg gewinnen. Meine größte Angst ist, dass es zu einem neuen Grosny in Kiew kommt – dass durch den Beschuss der russischen Armee Zehntausende Menschen sterben und die Stadt völlig zerstört wird. Oder dass die Lage zu einem Nato-Russland-Krieg eskaliert und die Atombombe zu einer realen Bedrohung wird. Ich frage mich, was zum Beispiel die Friedensforschungsinstitute in den letzten zehn Jahren gemacht haben? Gewarnt haben sie vor dieser Entwicklung nicht.
Fuhrhop: Ich teile Ihre Sorge um eine Eskalation...
Müller: Um den amerikanischen Präsidenten Joe Biden zu zitieren: Wir müssen alles tun, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Das bedeutet, stärker auf die Ebene der Diplomatie zu kommen – aber der polnische Präsident reist nach Kiew und fordert anschließend, wir brauchen hier die Nato. Nein, Sicherheit muss vor allem eine Frage der gemeinsamen Sicherheit sein.
Fuhrhop: Es ist ein Ritt auf Messers Schneide. Aber bisher hat die Nato in ihren Statements sehr deutlich gemacht, dass sie ein aktives Eingreifen in diesen Konflikt ausschließt. Das ist erstmal gut, wenn auch nur eine Momentaufnahme. Ob das, was einzelne Mitglieder tun, bereits zur Eskalation beiträgt? Darüber lässt sich streiten.
Ukraine-Krieg: Nato, USA und EU müssen „alles tun, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern“
Müller: Der ukrainische Präsident Selenskyj ist zweifellos ein Meister der Kommunikation, aber das kann ja nicht die rationale Analyse ersetzen. Eine unmittelbare Beteiligung der Nato würde den Ukraine-Konflikt unvorstellbar zuspitzen. Ich hielte das für grundfalsch. Stattdessen brauchen wir eine friedliche Perspektive.
Fuhrhop: Klar wäre eine unmittelbare Beteiligung sehr gefährlich. Das Dilemma für die Nato ist doch aber, dass in diesem Krieg etwas verteidigt wird, das uns im Westen ganz klar angeht – nämlich die Werte einer gemeinsamen Friedensordnung. Die besagt, dass nationale Grenzen nicht gewaltsam verschoben werden. Und dass es Putins Russland nichts angeht, wenn die Ukraine entscheidet, sich demokratisch zu organisieren. Deshalb wird in diesem Krieg etwas verteidigt, was über die Ukraine hinausgeht.
Müller: Wir brauchen zwei Schritte: Der erste wäre, an den Helsinki-Prozess anzuknüpfen, die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anm. d. Red.) und auch den Nato-Russland-Rat einzuberufen und einen Waffenstillstand auszuhandeln. Das müsste – im zweiten Schritt – mit dem Versuch verbunden werden, eine neue europäische Friedensordnung zu erarbeiten. Wir müssen aus dem Dilemma herauskommen, dass Außenpolitik mit Militarisierung einhergeht.
Michael Müller (SPD) zum Ukraine-Konflikt: „Eine neue europäische Friedensordnung erarbeiten“
Fuhrhop: Sie machen zu viele Schritte vor dem ersten, Herr Müller. Bevor wir darüber nachdenken, wie es zu einer Entspannung der Lage und einer gemeinsamen Friedensordnung kommen kann – nachdem dieser Krieg wie auch immer beendet wird – müssen wir die Voraussetzungen klären. Der Nato-Russland-Rat? Wir kriegen zur Zeit gerade so einen militärischen Kanal zu den Russen hin. Wie sollen wir dann den Nato-Russland-Rat einberufen...
Müller: So ganz stimmt das ja nicht. Intern läuft auf der diplomatischen Ebene eine ganze Menge...
Fuhrhop: Wir verhandeln doch nicht mit Russland...

Müller: Nein, aber die Ukraine verhandelt. Und ständig sprechen westliche Politiker mit Putin. Wo ist der gemeinsame Vorschlag, der eine Perspektive eröffnet?
Fuhrhop: Die Ukraine kann mit Russland über die Bedingungen zur Beendigung des Krieges sprechen. Offenbar redet sie mit Russland ja auch über den künftigen Status des Landes. Aber es ist nicht an uns, darüber zu entscheiden. Klar, irgendwann wird Europa wieder mit Russland über mögliche künftige Ordnungen sprechen. Aber diese Schritte müssen doch nacheinander erfolgen, weder parallel zu den Verhandlungen, die die Ukraine führt, noch über ihren Kopf hinweg.
Müller: Genau da bin ich anderer Ansicht. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass man Legitimationskraft für eine europäische Friedensordnung entwickelt. Und die wird nicht allein über die beiden Kriegsparteien hinzubekommen sein. Wir brauchen eine Leitidee für die Zukunft Europas, die auf Gemeinsamkeit aufbaut.
Russland: Ukraine in Verhandlungen mit Wladimir Putin über künftigen Status des Landes
Fuhrhop: Ich wäre momentan vorsichtig mit dem Begriff Friedensordnung. Für die Frage, was nach dem Krieg kommen kann, ist ganz wesentlich, wie dieser Krieg verläuft und wie er beendet wird. Im Moment sehe ich keine Vorzeichen für eine Friedensordnung mit Russland. So eine Ordnung – die hatten wir mal im Rahmen der OSZE verabredet – stützt sich auf drei zentrale Elemente: gemeinsame Werte, gemeinsame Regeln und einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch. Diese drei Stützpfeiler sind über lange Zeit erodiert und es wird auch lange Zeit dauern, sie wieder aufzubauen. Russland ist gerade aus dem Europarat ausgetreten...
Zu den Personen:
Pia Fuhrhop arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Dort forscht sie zu Grundlagen deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Michael Müller ist SPD-Politiker und saß von 1983 bis 2009 für seine Partei im Bundestag. Er gehört dem linken Parteiflügel an und engagiert sich seit langem stark für Fragen der Umwelt- und Klimapolitik.
Müller: Ich verteidige nicht die dunkle Seite Russlands. Das System Putin ist repressiv, nationalistisch und imperialistisch, es schreckt vor brutalen Opfern nicht zurück. Aber Sie müssen auch die Entwicklung sehen. Noch 2008 wollte Putin, dem alle zugejubelt haben, auch aus dem konservativen Lager, eine gemeinsame Sicherheit in Europa. Es gibt ein historisches Versagen der Europäer und Amerikaner gegenüber Russland. Die Politik des amerikanischen Präsidenten Bush war ein Herr-Knecht-Verhalten. Ich erinnere mich sehr gut an Putins Auftritt auf dem Nato-Rat 2008 in Bukarest, wo er ausdrücklich an der Europäischen Friedensordnung weiterbauen und den Helsinki-Prozess weiterentwickeln wollte.
Fuhrhop: Ich würde Ihnen nie unterstellen, dass Sie Putin verteidigen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es unter den momentanen Voraussetzungen schwierig ist, mit ihm zu irgendeiner Gemeinsamkeit zu kommen..
Müller: Ich will mit Russland zu mehr Gemeinsamkeit kommen, was ist sonst die Alternative zur Eskalation?
Fuhrhop: Die Frage ist nicht: Wünschen wir uns eine gemeinsame Friedensordnung, sondern wie soll’s denn gehen? Eine Friedensordnung ist etwas sehr Anspruchsvolles. Gemeinsame Werte mit Putins Russland gibt es erstmal nicht, darauf können wir uns wohl einigen. Wenn man die nicht hat, braucht man wenigstens gemeinsame Regeln, zum Beispiel in der Rüstungskontrolle. Aber auch die setzt ein gewisses Maß an Vertrauen voraus. Ich glaube, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir wieder mit ganz kleinen Dingen anfangen müssen. Der Vermeidung militärischer Eskalation, der Vermeidung von Zusammenstößen im Luftraum und auf der hohen See. Das ist etwas ganz anderes als die große, konventionelle Rüstungskontrolle als Teil einer Friedensordnung. Der Krieg hat in mancher Weise die Zeit zurückgedreht und sie nach vorne zu drehen, wird sehr viel länger dauern, als uns lieb ist.
Ukraine-Krieg: „Zu einer europäischen Friedensordnung gehört auch Russland“
Müller: Ich sehe das ganz anders. Wir brauchen gerade jetzt keine kleinen Schritte, sondern eine große Vision. Die kleinen Schritte ergeben sich dann daraus. Eine Vision, die deutlich macht: Wir wollen, dass Russland weiter zu Europa gehört. Wir wollen eine gesamteuropäische Perspektive auf Augenhöhe. Dafür muss man sich jetzt einsetzen. Es braucht eine Perspektive für beide Seiten.
Fuhrhop: Na klar, in der schönsten aller Welten könnten Sie und ich uns jetzt fragen: Was sind die gemeinsamen Interessen der Nato und Russlands? Wie setzen wir diese wirtschaftlich und bei der Rüstungskontrolle um? Und sicher könnten wir auch beschreiben, wie beide Seiten in den vergangenen zwanzig Jahren an den Stuhlbeinen der gemeinsamen Ordnung gesägt haben. Ich glaube, da haben wir keinen Dissens...
Müller: Wir waren doch schon mal weiter. In den 80er Jahren gab es von der UNO die Grundidee der Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit in der Nord-Süd-Politik, Gemeinsamkeit bei der Frage von Umwelt und Entwicklung und Gemeinsame Sicherheit. An diese Kultur müssten wir wieder anknüpfen. Aber wir haben Europa immer stärker auf die EU reduziert und die EU hat ihre Außenpolitik immer stärker auf die Nato ausgerichtet. Das ist nichts, was eine Europäische Friedensordnung braucht. Und zu einer Europäischen Friedensordnung gehört auch Russland.
Fuhrhop: Wir müssen doch aber zur Kenntnis nehmen, dass dieser Krieg eine ganz zentrale Voraussetzung dafür zerstört hat – und zwar das Vertrauen. Deshalb sind wir an einem Punkt, wo wir versuchen müssen, über kleine Schritte Stabilität herzustellen. Das ist viel weniger als eine Friedensordnung, aber das Ziel ist dasselbe – erstmal Eskalation zu vermeiden. Wo sollen denn zur Zeit die Voraussetzungen für eine große Vision herkommen?
Müller: Ich bin da ganz bei Franklin Roosevelt: Große Herausforderungen brauchen große Antworten. Diese große Antwort ist ja nicht nur, dass wir den Krieg überwinden müssen. Die Klimaproblematik beispielsweise können wir ohne Russland nicht lösen. Wir müssen Putin unter Legitimationszwang setzen, ausgehend von den großen Zukunftsfragen und dem, was ein friedliches Europa zur Lösung beitragen kann und muss.
Europa und der Ukraine-Konflikt: Krieg in der Ukraine habe Vertrauen zerstört
Fuhrhop: Ich will auch keinen instabilen Zustand in Europa, von dem wir nicht wissen, ob es ein Kalter Krieg ist oder eine Kalte Konfrontation mit heißen Phasen. Doch ich frage Sie: Was machen wir denn mit dem Umstand, dass Putins Russland ein ausgesprochen repressiver Staat ist, der im Moment kein großes Interesse zeigt, sich an die Menschenrechtsvorgaben der OSZE zu halten oder an ein nachhaltiges Wirtschaften. Wie ordnet man das in Ihr langfristiges Ziel ein und wie kommt man dann von dem einen Zustand zum anderen?
Müller: Aus meiner Sicht muss man Dynamiken in Gang setzen. Russland ist zurzeit von repressiver Angst bestimmt, abgehängt und bedeutungslos zu werden. In Russland geht es wirtschaftlich bergab, das ist ein Teil des Putin-Problems. Das Durchschnittseinkommen in Russland liegt bei nur noch 11 000 Dollar im Jahr. Das wird große Krisen im Land hervorrufen. Wenn ich von Dynamiken spreche, meine ich eine Außenpolitik auf Augenhöhe, auch dass man Russland wirtschaftlich stärker einbindet, kulturell und politisch enger vernetzt.
Fuhrhop: Natürlich teile ich die langfristige Vision, dass Europa gemeinsame Sicherheit braucht. Und wenn wir Elemente einer solchen Ordnung beschreiben müssten, würden wir das Rad ja nicht neu erfinden. Wie früher würden wir sagen: Es muss eine Ordnung sein, die auf universal geteilten Menschenrechten basiert und in der die europäischen Gesellschaften einen regen Austausch haben. Weiterhin geht es um eine sinnvolle wirtschaftliche Zusammenarbeit, die auch Russlands Zukunft sichert und seine Abhängigkeit von Gas- und Ölexporten verringert. Eine Ordnung, die Verteidigung gewährleistet, aber Angriffskriege durch Rüstungskontrolle schwierig macht, im besten Fall sogar zu Abrüstung führt. Ich habe keine Schwierigkeit mit dieser Vision.

Ukraine-Krieg: Waffenstillstand von Russland und der Ukraine erzielen
Müller: Ich war 28 Jahre im Bundestag und habe viele Entscheidungen unmittelbar miterlebt. Und immer wenn man langfristige Perspektiven hätte entwickeln müssen, hieß es: Nee, dafür ist jetzt keine Zeit. Es war immer dasselbe und es war falsch! Gerade in schwierigen Situationen muss man Perspektiven entwickeln, anderenfalls lässt man sich auf eine kurzfristige Logik ein, die nicht wirklich weiterhilft. Es ist erkaufte Zeit. Heute müssen wir zu einem Waffenstillstand kommen, auch und indem wir über die neue Architektur eines gesamteuropäischen Hauses reden.
Fuhrhop: Aber wir haben doch ein Wahrnehmungsproblem, wenn wir jetzt nicht erkennen: Putin hat mit dem Einmarsch in die Ukraine gezeigt, dass er an vielen zentralen Zielen der beschriebenen Ordnung derzeit kein Interesse hat. Ich würde deshalb dafür plädieren, diese Ordnung zwar zu beschreiben und uns immer wieder zu fragen, wann es die Gelegenheit gibt, Russland dafür zu gewinnen. Aber wenn Russland kein Interesse hat, müssen wir auch in der Lage sein, entsprechend zu reagieren. Wenn dazu mehr Geld für Verteidigung gehört, dann ist das eben so.

Müller: Das, was jetzt an wahnsinnigen Mitteln für Rüstung und strategische Konzepte ausgegeben werden soll, wird fehlen, um die wesentliche Friedensfrage der Zukunft zu bewältigen – nämlich die Klimaproblematik. Ich wundere mich sehr über den Wandel bei SPD und Grünen. Denken wir an den Satz von Willy Brandt: Wir müssen den Irrsinn der Hochrüstung stoppen. Wenn die Pläne der Bundesregierung umgesetzt würden, wäre Deutschland, was die Ausgaben angeht, die viertstärkste Militärmacht der Welt. Wer will das? Dieses Geld geht verloren, um den Frieden auf der Welt zu sichern. Es sind nämlich die sozialen und die ökologischen Fragen, die dabei zu kurz kommen.
Fuhrhop: Wie bei allen Zeitenwenden, die verkündet werden, steht das Urteil noch aus. All diese großen Dinge harren der Umsetzung und können sich auch wunderbar wieder verzwergen. Mit Sicherheit hätte man dieser Koalition den Paradigmenwechsel nicht zugetraut. Ich bin eher vorsichtig, ich möchte die Zeitenwende erstmal sehen. Und zwischen der Ankündigung und der tatsächlichen Politik liegt noch ein bisschen Wegstrecke.
(Moderation: Bascha Mika)