„Leichen liegen auf den Straßen“: Russische Medien veröffentlichen Selenskyj-Interview trotz Verbots

Im Interview mit russischen Medien zeigt sich Selenskyj gegenüber seiner Beziehung zu Russland pessimistisch – trotz aller Kompromisse im Ukraine-Krieg.
Kiew/Moskau – Mehr als einen Monat nach Kriegsbeginn wirft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj* in einem Interview mit russischen Journalisten Wladimir Putin* „und seinem Gefolge“ eine Verzögerung der Friedensverhandlungen vor. In dem rund anderthalbstündigen Video-Gespräch, das das kritische Nachrichtenportal Meduza am Sonntagabend (27.03.2022) veröffentlichte, forderte Selenskyj einmal mehr einen Abzug russischer Truppen von ukrainischem Territorium. Erst dann könne es Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben, die wiederum Grundlage für den von Moskau geforderten Nato-Verzicht* der Ukraine* seien, sagte der ukrainische Staatschef. Selenskyj erneuerte außerdem seine Ankündigung, dass über einen neutralen Status der Ukraine letztendlich nur die ukrainischen Bürger über ein Referendum entscheiden könnten.
Unter den russischen Journalisten, die mit Selenskyj sprachen, war unter anderem ein Reporter der bekannten Moskauer Tageszeitung Kommersant. Auch die Medien Meduza und Doschd, deren Seiten in Russland* blockiert sind, waren vertreten. Das Portal Meduza veröffentlichte das rund anderthalbstündige Interview trotz der Warnung der Medienaufsicht auf seiner Seite, die über alternative Internetverbindungen und aus dem Ausland weiterhin zu erreichen ist. Die Behörde Roskomnadsor hatte russische Medien zuvor ohne Angabe von Gründen vor einer Veröffentlichung gewarnt, kritische Berichterstattung unterliegt weiterhin der staatlichen Zensur. Zudem sieht ein neues Mediengesetz bis zu 15 Jahre Haft für angebliche Falschnachrichten über Russlands Streitkräfte vor.

Ukraine-Krieg – Selenskyj zur Situation um Mariupol: „Verbrannte Erde. Nur verbrannte Erde.“
Das Interview wurde von Meduza unter anderem via YouTube der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und zusätzlich als Transkript online veröffentlicht. Selenskyj berichtet darin unter anderem von der aktuellen Situation des Ukraine-Krieges* in Mariupol. Auf die Frage, von wem die nahezu völlig zerstörte Stadt derzeit kontrolliert werde, da gebe es unterschiedliche Meldungen, sagte Selenskyj: „Wer Informationschaos verursacht, das ist klar. Die Realität ist: Die Stadt wird vom russischen Militär blockiert. Alle Ein- und Ausfahrten aus sind gesperrt. Der Hafen ist vermint. In der Stadt herrscht eine humanitäre Katastrophe, denn man kommt mit Lebensmitteln, Medikamenten und Wasser nicht hinein. Das russische Militär schießt auf humanitäre Konvois. Die Fahrer werden getötet. Was mit den Ladungen passiert, kann ich Ihnen nicht sagen.“
Mariupol existiere nicht mehr, sagt der ukrainische Präsident weiter. In der Stadt, in der rund eine halbe Million Einwohner lebten, seien 90 Prozent der Gebäude von Schäden durch den russischen Beschuss betroffen. Die Kleinstädte in der näheren Umgebung seien vollständig zerstört: „Verbrannte Erde. Nur verbrannte Erde. Absolut.“ Es befänden sich allerdings noch ukrainische Truppen in der Stadt. Er stehe mit ihnen im Kontakt und sie hätten ihm gesagt: „Wir können die Stadt nicht verlassen. Hier gibt es Verletzte. Wir werden die Verwundeten nicht im Stich lassen“. Und weiter: „Wir werden die Toten nicht verlassen.“

Ukraine-Krieg – Truppen in Mariupol: „Wir werden die Toten nicht verlassen“
Selenskyj wendet sich im Interview eindringlich an die Journalisten. „Damit sie verstehen: In der Stadt liegen Leichen auf den Straßen, auf den Bürgersteigen. Die Leichen liegen einfach herum, niemand räumt sie weg, weder russische Soldaten noch Bürger der Ukraine. Das sind Massen.“ Er stockt und sucht nach dem richtigen russischen Wort, das ihm nicht einfällt: „Keine Massen, sorry. Ich kann nicht ‚Haufen‘ über Menschen sagen.“ Sein Gegenüber wiederholt: „Haufen.“ Selenskyj bejaht. „Es sieht beängstigend aus. Aber unser Militär ist nicht bereit, auch nur das tote Militär zurückzulassen. (…) Sie beschützen die Stadt, die Verwundeten und die Toten, die sie begraben wollen.“
Die Beziehung zu Russland, und zwar nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch zur russischen Bevölkerung, hat für Selenskyj einen enormen Schaden erlitten. Er sagte: „Heute, in diesem Monat, hat es eine globale, historische, kulturelle Spaltung gegeben. Das ist nicht nur ein Krieg. Ich denke, es ist viel schlimmer.“ Zuvor, als der Krieg im Jahr 2014 seinen Anfang nahm, sei er von den Russen enttäuscht gewesen. Es werde von Propaganda, Missinformation und Gehirnwäsche gesprochen und dass die russische Bevölkerung es nicht besser weiß. Das könne man bei einem mehr oder weniger plötzlichen Ereignis noch für plausibel halten, aber „es sind acht Jahre, verdammt!“ Es sei unmöglich, einen totalen Krieg so viele Jahre lang nicht zu bemerken.
Beziehung zu Russland: Ukraine-Krieg verursacht „irreparable“ Schäden
Er sagt weiter, er persönlich würde, wenn er die Wahrheit über eine umstrittene Situation erfahren will, danach suchen. Wer aber nicht danach suche, der wolle das eben auch nicht. „Was in Ihrem Land, in Russland, passiert, ist für mich eine unbegreifliche Geschichte. Eine Tragödie, ja. Die uns betrifft.“ Sich auf die russische Propaganda zu berufen, sei doch, wenn man ehrlich ist, „nur eine Ausrede.“ Er wisse deshalb nicht, ob eine gute Beziehung zu Russland nach all dem für ihn noch einmal möglich sei: „Das ist die schrecklichste Enttäuschung. Aus Enttäuschung wurde Hass.“ Er gehe davon aus, dass der Hass auf alles wachsen werde. Russischsprachige Menschen würden sich in Zukunft schämen, zu sprechen. Das alles gehe dann zurück auf Putin und diesen Angriffskrieg. Das sei ein irreparabler Schaden für viele Jahre.
Auf Verhandlungen lasse er sich jedoch ein. Sein Wunsch laute: „Das Minimieren der Zahl der Opfer, die Dauer des Krieges verkürzen. Ziehen Sie die Truppen der Russischen Föderation in Kompromissgebiete zurück – auf den Stand von vor dem 24. Februar, vor dem Angriff. Gehen wir dorthin zurück.“ Er verstehe, dass es unmöglich ist, das gesamte Territorium von der russischen Besetzung zu befreien. Das würde „zu einem dritten Weltkrieg führen. Ich verstehe das vollkommen und bin mir dessen bewusst.“ Deshalb sei er zu einem Kompromiss bereit: „Gehen Sie dorthin zurück, wo alles begann, und dort werden wir versuchen, das Donbass-Problem zu lösen.“ (na/dpa) *fr.de ist ein Angebotvon IPPEN.MEDIA.