Russischer Ex-Offizier zerlegt Putins neue Taktik
Ein ehemaliger FSB-Agent erklärt, wie Wladimir Putin auch die Pro-Kriegs-Bevölkerung langsam verliert. Auch die russische Kommandostruktur führt zu Problemen.
Moskau – Das renommierte „Institute for the Study of War“ aus Washington D. C. hat in seinem neuen Bericht über die russische Offensive im Donbass weitreichende Fehler in der Taktik aufgedeckt. Berichte von wachsender Unzufriedenheit innerhalb der russischen Armee sind nichts Neues mehr. Ebenso wenig die wohl steigende interne Kritik an der Kriegstaktik Wladimir Putins. Das Ausmaß dessen lässt sein ehemaliger FSB-Agent erahnen.

Ausschlaggebend für das schlechte Abschneiden seien dem Bericht zufolge die zunehmenden Verluste in den Rängen russischer Nachwuchsoffiziere. Diese werden Russlands Fähigkeiten schwächen und zu einem weiteren Zusammenbruch der Moral führen. Auch das britische Verteidigungsministerium berichtete am 30. Mai 2022, dass die russischen Streitkräfte verheerende Verluste bei den mittleren und unteren Offiziersrängen erlitten hätten. Diese sind für die russische Armee aufgrund der veralteten Kommandostruktur ungemein wichtig.
Ukraine-Krieg: Russland scheitert an eigener Kommandostruktur
Diese Kommandostruktur ist die Quelle des meisten Übels bei der russischen Armee. Im Gegensatz zu modernen westlichen Armeen (die Ukrainische kann diesbezüglich dazugezählt werden) sind die russischen Einheiten bei kleinsten Entscheidungen auf einen Befehl von „oben“ angewiesen. Ukrainische Kampfverbände sind nach westlichen Vorbild mit einem Plan von „oben“ ausgestattet, genießen in der Ausführung aber Entscheidungsfreiheit und können so schnell, variabel und somit effektiv handeln.
Das britische Verteidigungsministerium berichtete hierzu, dass Offiziere auf Bataillons- und Brigadeebene weiterhin nach vorne und in die Gefahrenzone geschickt werden (um diesen Mangel auszugleichen), anstatt von rückwärtigen Gebieten aus zu kommandieren und an rangniedrigere Offiziere zu delegieren.
Ukraine-Krieg: Russische Demoralisierung könnte kleinere Gegenangriffe erlauben
Weiter wird berichtet, dass junge Offiziere aufgrund mangelnder Professionalität und Modernisierung der russischen Streitkräfte für taktische Operationen auf niedriger Ebene zuständig sind und dass der fortwährende Verlust dieser jungen Offiziere die Führungsarbeit weiter erschweren wird. Insbesondere in den taktischen Bataillonsgruppen (BTGs), die aus den Überlebenden mehrerer anderer Einheiten zusammengeschustert wurden.
Bereits in früheren Berichten hatte das ISW die Schätzung angestellt, dass die anhaltende Demoralisierung und die schlechte Führung der russischen Streitkräfte den ukrainischen Streitkräften die Möglichkeit bieten könnte, vorsichtige Gegenangriffe durchzuführen. Zumal die russische Führung weiterhin viele Ressourcen in die Schlacht um Sewerodonezk investiert, was auf Kosten andrer Bereiche geht.
Ukraine-Krieg: Ex-FSB-Agent kritisiert russische Taktik
Deswegen wachse auch in russischen Militärkreisen der Unmut darüber, dass der Kreml nicht genug tut, um den Krieg zu gewinnen. Der ehemalige Offizier des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), Igor Girkin (auch bekannt als Strelkov), verurteilte die Äußerungen des russischen Außenministers, Sergej Lawrow, wonach die Priorität der „Spezialoperation“ in der Ukraine die Befreiung des Donbass sei.
Girkins Auffassung nach, habe der Kreml die ideologischen Grundlagen des Konflikts außer Acht gelassen, indem er sich auf den Donbass und nicht auf die ganze Ukraine konzentrierte. Girkin beklagte, dass Kreml-Beamte die Legitimität der Existenz der Ukraine nicht mehr infrage stellen und dass die Konzepte der „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ in Vergessenheit geraten seien. Dem Kreml warf Girkin Beschwichtigungspolitik vor und erklärte, dass die Gefahr einer Niederlage immer größer werde.
Ukraine-Krieg: Auch die russische Pro-Kriegs-Bevölkerung wird ungeduldig
Girkins Widerspruch ist bezeichnend für die anhaltenden Veränderungen in den Kreisen der russischen Militärenthusiasten und Ex-Soldaten. Der Kreml hatte schon in der Vergangenheit seine Ziele für den Krieg in der Ukraine aufgrund von Misserfolgen auf dem Schlachtfeld wiederholt nach unten korrigiert.
Der Kreml sieht sich zunehmend mit Unzufriedenheit konfrontiert, die nicht von Russen ausgeht, die den Krieg insgesamt ablehnen, sondern von Militärs und Nationalisten, die über die russischen Verluste verärgert und über die veränderte Darstellung des Krieges durch den Kreml frustriert sind, so das Institut.
Russische Offizielle sind zunehmend nicht in der Lage, angesichts eindeutiger Rückschläge dieselben ideologischen Rechtfertigungen für die Invasion anzuführen. Das Ausbleiben konkreter militärischer Erfolge in der Ukraine wird die Unzufriedenheit mit dem Ukraine-Krieg im Inland weiter schüren. (lz)