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Jermak: Der Krieg ist ein Fehltritt phänomenalen Ausmaßes

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Vladimir Putin bei einem Treffen mit Ministerialbeamten.
Vladimir Putin bei einem Treffen mit Ministerialbeamten. © AFP

Das russiche Imperium ist an sich selbst gescheitert, aber die Ukraine zahlt die Zeche: ein Gastbeitrag von Andrij Jermak, dem Leiter des ukrainischen Präsidialamtes.

Im alten Königreich Babylon war König Nebukadnezar mit seiner Geduld am Ende. Keiner seiner Magier und Astrologen konnte die Bedeutung eines schrecklichen Traums erklären, der den Monarchen heimsuchte. Nacht für Nacht sah Nebukadnezar eine prächtige Statue mit einem Kopf aus Gold, einer Brust aus Silber und Beine aus Bronze. Doch darunter waren die Füße aus Lehm.

Aus Frustration über fehlende Klarheit befahl Nebukadnezar den Massenmord an seinen unzulänglichen Sehern. Das Gemetzel ging weiter, bis ein junger jüdischer Mann namens Daniel, der in Gefangenschaft gehalten wurde, sich zu Wort meldete und enthüllte, dass die Statue das babylonische Herrschaftssystem darstellte, wie es sich im Laufe der Geschichte durch die verschiedenen Reiche entwickeln würde.

Die Edelmetalle standen für mächtige und blühende Jahre. Aber die Füße aus Lehm symbolisierten ein Reich, das nicht in der Lage war, seine Pracht aufrechtzuerhalten. Ein Reich, das schließlich unter dem Gewicht seiner Widersprüche zusammenbrechen würde.

Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass das moderne Russland auf dem Weg ist, das gleiche Schicksal zu erleiden. Als der Kreml im Februar letzten Jahres den illegalen Einmarsch in die Ukraine befahl, setzten die russischen Streitkräfte zunächst rund 180.000 Soldaten ein. Sie stießen jedoch auf tapferen Widerstand und sind inzwischen wieder in Richtung der russischen Grenze geflohen.

Putins Streitkräfte werden mit Mördern und Vergewaltigern aufgefüllt

Viele hatten nicht geglaubt, dass eine der vermeintlichen „Großmächte“ der Welt eine solche Niederlage erleiden könnte. Doch nach dem Rückzug verschärfte sich die Krise. Im Juli bereiste Jewgeni Prigoschin, Chef der skrupellosen „Wagner“-Gruppe, russische Gefängnisse in einem zunehmend verzweifelten Versuch, Soldaten für den Krieg in der Ukraine zu rekrutieren. Die Suche war nicht gerade erfolgreich. Monate später flohen Tausende von Russen aus dem Land, um nicht in den „Fleischwolf“ geworfen zu werden, nachdem der Kreml die Einberufung von 318.000 Zivilisten angekündigt hatte.

Jetzt werden Putins taumelnde Streitkräfte mit Mördern und Vergewaltigern aus afrikanischen Gefängnissen aufgefüllt, denn „Wagner“ rekrutiert auch Kriminelle aus der Zentralafrikanischen Republik. Dass das russische Imperium auf tönernen Füßen steht, zeigt auch seine Entscheidung, den militärischen Kampf gegen die Ukraine zu vermeiden und stattdessen unsere zivile Infrastruktur zu bombardieren. Dies ist alles andere als ein Zeichen von Stärke, sondern vielmehr ein eindeutiger Beweis für die lähmende Schwäche des Kremls.

Wendepunkt im Ukraine-Krieg ist erreicht

Dieser Krieg wird weder morgen noch in einem Monat enden. Aber wir haben den Wendepunkt bereits erreicht. Es steht außer Zweifel, dass die ukrainischen Verteidiger die russischen Angreifer auf dem Schlachtfeld besiegen werden. Dieser Erfolg ist zu einem großen Teil dadurch zu erklären, dass die Ukraine – wie Präsident Selenskyj feststellte – Russland „im Kampf um die Köpfe der Welt“ besiegt. Die außerordentliche und beispiellose Unterstützung unserer Verbündeten und Partner – militärisch, wirtschaftlich und humanitär – ist der Beweis dafür.

Es ist jedoch zu früh, damit aufzuhören. Wir hören immer noch Forderungen, Möglichkeiten zu finden, die es Russland erlauben, sein Gesicht zu wahren, sowie Forderungen nach Verhandlungen ohne Vorbedingungen. Außerdem wird die Anerkennung der illegalen Annexion der ukrainischen Gebiete gefordert, die Russland immer noch besetzt hält. Einige Experten glauben, dass Putin jedes Verhandlungsergebnis als Sieg deklarieren wird.

Es ist auch wahrscheinlich, dass es ihm gelingen wird, eine große Zahl seiner Bürger zu überzeugen, da die Macht der russischen Propaganda die bittere Demütigung Russlands auf dem Schlachtfeld abmildern kann.

Ukraine-Krieg: Kreml erpresst Welt mit Atomwaffen

Die Realität ist jedoch, dass Putins überstürzter Gewaltausbruch in der Ukraine nicht nur seine vertrautesten Berater alarmiert hat. Er hat auch die Beziehungen zu jenen internationalen Partnern schwer beschädigt, bei denen er jahrzehntelang um Gunst geworben hat. Russlands verheerende militärische Verluste haben nicht nur die Familien seiner Bürger zerrüttet, sondern auch das Vertrauen ehemals wohlwollender Verbündeter, das Ergebnis jahrzehntelanger akribischer wirtschaftlicher Planung. Außerdem hat es der Nato ein neues Zielbewusstsein eingeflößt.

Der Krieg ist ein Fehltritt phänomenalen Ausmaßes mit weitreichenden Folgen, der das Potenzial Tausender der klügsten und fähigsten Köpfe Russlands versickern lässt und gleichzeitig seine jahrzehntelang verborgenen Schwachstellen auf der Weltbühne offenlegt.

Trotzdem erpresst der Kreml die Welt weiterhin mit Atomwaffen und nuklearen Katastrophen. Die russische Führung versucht immer noch, einer Bestrafung für das Verbrechen der Aggression zu entgehen. Wenn Moskau nur etwas von dem bekommt, was es will, wird der Raschismus (die Putin’sche Form des Nationalsozialismus, Anm.d.Red.) überleben. Und mit ihm ein weiterer Versuch, sein imperiales Projekt neu zu starten. Russlands Ressourcen werden wieder einmal für Erpressung und Zerstörung eingesetzt werden, nicht für Partnerschaft und Aufbau.

Die Menschen in Russland werden eine Chance haben, frei zu sein, wenn sie den Kreml in ihren Köpfen besiegen, hat Präsident Wolodymyr Selenskyj gesagt. Aber es ist ganz offensichtlich, dass sie es nicht allein schaffen werden. Deshalb sollten die Partner und Verbündeten der Ukraine uns nicht nur bei der Wiederherstellung der Souveränität und der territorialen Integrität innerhalb international anerkannter Grenzen helfen, sondern auch bei der Schaffung eines neuen globalen Sicherheitssystems, das Revanche-Versuche unmöglich macht.

Eine Zukunft für Russland

Der Zehn-Punkte-Friedensplan von Präsident Selenskyj sieht all diese Schritte vor. Er umfasst den Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine, die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, die Einrichtung eines Sondergerichtshofs zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen, westliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine, Garantien für die Ernährungssicherheit, einschließlich der Unterstützung der ukrainischen Getreideexporte in die ärmsten Länder der Welt, und Garantien für die Strahlen- und Nuklearsicherheit in der Umgebung des größten Kernkraftwerks Europas, Saporischschja, das gerade von Russland besetzt ist.

Diese Bedingungen müssen in vollem Umfang erfüllt werden. Andernfalls wird der russische Koloss erneut auf tönernen Füßen stehen. Eines Tages würde er unweigerlich wieder fallen. Aber die Menschheit wird dafür mit noch mehr Menschenleben bezahlen müssen. Die demokratische Welt kann sich dafür entscheiden, dieses Szenario jetzt zu verhindern. Helfen Sie den Ukrainern dabei, ihre Arbeit zu beenden!

Andrij Jermak ist Leiter des ukrainischen Präsidialamts.

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