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Die Chronik des Ukraine-Krieges

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Von: Peter Rutkowski

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Feuerwehrleute versuchen im April 22, ein Feuer in einem von einer Rakete getroffenen Gebäude in einem Vorort von Charkiw zu löschen.
Feuerwehrleute versuchen im April 22, ein Feuer in einem von einer Rakete getroffenen Gebäude in einem Vorort von Charkiw zu löschen. © Sergey Bobok/afp

Von der Invasion der „kleinen grünen Männchen“ auf der Krim bis hin zum Stellungskrieg im Donbass - ein Rückblick auf den Kriegsverlauf in der Ukraine.

Frühjahr 2014: Während des Chaos der „Euromaidan“-Revolution in Kiew nutzt Russland den Zerfall der ukrainischen Staatsinstitutionen zu der merkwürdigsten Invasion seit dem Ende der Sowjetunion und ihrer „freundschaftlichen Interventionen“ (Ungarn, Tschechoslowakei, Afghanistan ...): „Freundliche Herren“, maskiert mit Skimasken und in anonymen grünen Uniformen mit russischem Schnitt, tauchen auf der Krim auf und übernehmen dort die Macht. Im Westen werden diese russischen Soldaten als „kleine grüne Männchen“ (eine anzügliche Cartoon-Reihe aus den 1960er/1970er Jahren) verhöhnt. Gegen sie etwas zu unternehmen, traut sich niemand. Die neue Ukraine muss den Verlust der strategisch wichtigen Halbinsel hinnehmen und rettet im Osten, was zu retten ist.

Ukrainische Revolutionärinnen im Februar 2014 in Kiew.
Ukrainische Revolutionärinnen im Februar 2014 in Kiew. © Genya Savilov/afp

Spätsommer 2014: Der Revolution folgt ein grotesker Schießkrieg. Nach dem gescheiterten Versuch, Provokateure einzuschleusen und „Volkserhebungen“ in allen Bevölkerungszentren der Ukraine zu inszenieren – gefolgt von Bitten um Annexion durch Russland – , versuchen Moskaus Leute vor Ort, in den teilbesetzten Oblasten Donezk und Luhansk eine Front gegen die Ukrainer aufzubauen. Die verteidigen ihre demokratische Revolution mit „Alarmeinheiten“, spontan zusammengewürfelten Gruppen von Bewaffneten, Milizen, paramilitärischer Polizei und verbliebenem Militär. Die extremen Nationalisten und Rechtsradikalen darunter ziehen besonders viel internationales Augenmerk auf sich; sie stellen aber zu keinem Zeitpunkt mehr als zwei oder sechs Prozent (je nach Quellenlage) der kämpfenden Truppe. Mit der Schlechtwetterperiode wird der Konflikt im Donbass zum Stellungskrieg.

Pro-russische Separatisten an einem Kontrollpunkt in Donezk.
Pro-russische Separatisten an einem Kontrollpunkt in Donezk. © Philippe Desmazes/afp

12. Februar 2015: Deutschland und Frankreich beaufsichtigen die Unterzeichnung des „Minsk-II-Abkommens“ zwischen der Ukraine und Russland, um den fortwährend schwelenden Konflikt im Donbass doch noch friedlich beizulegen. In der eher schäbigen Tradition des Münchener Abkommens von 1938, das der britische Premier Neville Chamberlain bei seiner Rückkehr nach London angeblich schwenkte („Peace in our time!“), ist auch „Minsk II“ am Ende das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde. Aber Angela Merkel und (etwas weniger) Emmanuel Macron wollen ihren diplomatischen Erfolg nicht schmälern und halten lange über Gebühr an dem Abkommen fest.

Die Krim-Brücke, hier noch eine Baustelle, im März 2018.
Die Krim-Brücke, hier noch eine Baustelle, im März 2018. © Yuri Kochetkov/afp

25. November 2018: Noch ein Mal flammt der groteske Krieg nach vier Jahren erneut auf: Ein Schiff des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB rammt nahe der Straße von Kertsch – der Meerenge, die das Asowsche mit dem Schwarzen Meer verbindet – einen ukrainischen Schlepper. Kurze Zeit später wird auch noch eines von zwei Begleitbooten der ukrainischen Marine beschossen. Die Russen bringen schließlich alle drei Schiffe auf und internieren (bis heute!) die Besatzungen. Moskau behauptet, die Schiffe seien ohne Erlaubnis durch russische Hoheitsgewässer gefahren.

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

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6. Januar 2019: Die erst drei Wochen zuvor gegründete „einheitliche ukrainisch-orthodoxe Kirche“ wird als eigenständige religiöse Gemeinschaft vom Patriarch von Konstantinopel – der höchsten Autorität der Orthodoxen Kirche – anerkannt. Damit wird das bisher dominierende – und Putin treu ergebene – Moskauer Patriarchat auf seine natürliche Größe zurechtgeschrumpft.

2020: Der 21. zwischen der Ukraine und Russland vereinbarte Waffenstillstand im Donbass wird wie alle anderen zuvor auch komplett ignoriert. Allein im März wurden täglich mehr als 700 Verletzungen der Vereinbarung registriert. Der 22. Waffenstillstand erst zeitigt eine signifikante Reduktion der Zwischenfälle.

Mitte Februar 2021: Nachdem das ukrainische Parlament Manöver mit Nato-Truppen auf seinem Territorium gestattet, nehmen die Verletzungen des Waffenstillstands wieder rapide zu. Dutzende ukrainische Soldat:innen werden getötet, die Verluste auf russischer/separatistischer Seite sind nicht bekannt.

April 2021: Russland verstärkt seine Truppenpräsenz nördlich und östlich der Ukraine um rund 100 000 Mann. US-amerikanische und britische Aufklärer beobachten die Entwicklung aus der Luft.

Januar bis Februar 2022: Im Donbass bleibt es eigentümlich ruhig, die ukrainischen Streitkräfte verzeichnen keine Verluste, andere Waffenstillstandsverletzungen bleiben so gering wie seit 2014 nicht.

21. Februar 2022: Putin erklärt die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk per Dekret für unabhängig. Die Ukraine zieht ihre Fronteinheiten im Osten etwas zurück und vermeidet dort alle Truppenkonzentrationen.

23. Februar 2022: Das ukrainische Parlament beschließt einen 30 Tage währenden Ausnahmezustand für das gesamte Land, der am nächsten Tag, einem Donnerstag, in Kraft treten soll. Präsident Wolodymyr Selenskyj versucht vergebens, mit Putin Kontakt aufzunehmen und spricht schließlich im Fernsehen auf Russisch direkt an die Menschen im Nachbarland und fleht sie an, sich für den Frieden einzusetzen.

Flagge der sogenannten „Republik Donezk“.
Flagge der sogenannten „Republik Donezk“. © Alexander Khodoteply/afp

24. Februar 2022: Die russischen Offiziere in Belarus, im Grenzgebiet bei Belgorod und im Donbass erhalten den Befehl, ihre Paradeuniformen für die Siegesfeiern in der Ukraine beim Einmarsch mitzuführen. Putins Feindaufklärung – oder seine Einflüsterer – behauptet, dass es keinerlei Widerstand gegen die „Befreiung“ der russischen Provinz Ukraine vom Joch „homosexueller jüdischer Nazis“ gibt, ergo ist die „militärische Spezialoperation“ bereits erledigt; man muss jetzt quasi nur noch Paraden zwischen Lwiw und Donezk orchestrieren. Den russischen Invasionstruppen werden laut Recherchen russischer Bürgerrechtsgruppen auch Namenslisten mitgegeben - eine für mögliche Kollaborateur:innen und eine für „zu liquidierende“ Personen.

24. Februar 2022: Alle Vorstöße der russischen Truppen auf ukrainisches Territorium verfehlen ihre Tagesziele. Am markantesten ist der krude und eigentümliche Versuch der Russen, auf dem Flughafen Kiew-Hostomel zu landen und im Handstreich die ukrainische Regierung zu erledigen. Im Donbass verrückt sich die seit 2015 fest stehende Front die nächsten zwei Monate um nicht einen Millimeter. Erbeutete russische Unterlagen zeigen, dass die Militärplaner einen erfolgreichen Abschluss der „Spezialoperation“ innerhalb von zwölf Tagen projektiert hatten.

Sicherheitskräfte inspizieren in einer Straße in Kiew die Überbleibsel einer Granate.
Sicherheitskräfte inspizieren in einer Straße in Kiew die Überbleibsel einer Granate. © Sergei Supinsky/afp

Februar 2022: Eine seit 1945 in Europa nicht mehr gekannte Flüchtlingsbewegung beginnt. Das westukrainische Lwiw wird zum Tor für alle, die aus der Ukraine heraus wollen oder sollen. Ununterbrochen fahren Züge mit Frauen, Kindern und Alten vor allem nach Polen, Busunternehmen organisieren Konvois zur Grenze, manche Männer bringen ihre Familien mit dem Pkw dorthin, dann kehren sie um, um sich für den Kriegsdienst zu melden. Es gibt auch Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen, aber noch viel mehr vormals pazifistisch Gesinnte ziehen nun Uniformen an. Wer aber partout nicht am Krieg teilnehmen will, bekommt ein Problem mit der Regierung in Kiew, die die Generalmobilmachung ausgerufen hat und bald auch allen Männern im wehrfähigen Alter die Ausreise untersagt. Nach nun einem Jahr Krieg haben laut UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) rund 8,1 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. 5,4 Millionen sind Vertriebene im eigenen Land.

Gedenkveranstaltung für getötete ukrainische Soldaten in Kiew.
Trauer um getötete ukrainische Soldaten in Kiew. © Imago/Borja Sanchez Trillo

Ende Februar 2022: Entlang der Schwarzmeerküste läuft es für die Invasoren besser; dort können sie auch aus zwei Richtungen angreifen – von der Krim und aus der Oblast Rostow am Don. Eine Landverbindung zwischen russischem Gebiet und der Krim ist schnell gesichert, Melitopol wird eingenommen, Cherson ist erreicht. Eigentlich hält sich nur noch die wichtige Hafenstadt Mariupol. Im Süden rächt sich für Kiew, dass der Hauptteil der ukrainischen Streitkräfte im Donbass steht.

März 2022: Mit einer zahlenmäßigen Überlegenheit von 12:1 rücken russische Verbände von Norden her nach Kiew vor. Die Einnahme der Hauptstadt scheint nur Stunden entfernt. Aber 30 Kilometer vor Kiew kommt die Offensive zum Stehen: Von vorne widerstehen ukrainische Einheiten den Russen, von hinten kommt für sie kein Nachschub durch. Es fehlen der Armee die Transportkapazitäten. Jahre der Korruption zahlen sich zugunsten der Ukraine aus. Kiew ist gerettet. Die Eroberung von Charkiw, zweitgrößte Stadt der Ukraine und ihre Waffenschmiede, scheitert ebenfalls. Dort bewährt sich zum ersten mal wirklich, dass die ukrainischen Streitkräfte seit ihrer Reformierung 2015 sich an den überlegenen westlichen Standards orientiert haben.

4. März 2022: Erstmals beschießt russische Artillerie das AKW Saporischschja.

7. März 2022: In einem internen Papier des russischen Geheimdienstes FSB wird die Invasion als „Totalversagen“ gewertet. Die Entlassung russischer Generäle wegen mangelnder Erfolge wird zum Alltag.

Frühjahr 2022: Die von ihrer eigenen Unfähigkeit frustrierten russischen Einheiten beginnen in den besetzten Gebieten ein chaotisches Terrorregime. Das Städtchen Butscha im Kiewer Umland wird zum Sinnbild für Putins „Entnazifizierung“: Bis August 2022 finden die ukrainischen Ermittlungsbehörden mehr als 400 gefolterte und massakrierte Zivilpersonen. Manche haben die Russen auf offener Straße gefesselt und exekutiert, andere im Vorbeifahren erschossen. Ein gefangener Russe wird dafür später zu lebenslanger Haft verurteilt. Da Moskau abstreitet, dass seine Truppen daran beteiligt gewesen sind, erlebt ein alter Buhmann eine Renaissance: Putins muslimische Hilfstruppen aus Tschetschenien im „wilden“ Kaukasus sollen fortan für Exzesse verantwortlich sein. Berüchtigt wird die brutale Entmannung und Ermordung eines ukrainischen Gefangenen durch einen Kämpfer vor laufender Handykamera - das Video verbreitet sich schnell im Netz.

Durch russische Angriffe zerstörte Gebäude in Mariupol.
Durch russische Angriffe zerstörte Gebäude in Mariupol. © afp

Mitte März 2022: Ausbleibende Geländegewinne führen zur verstärkten Bombardierung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes. Im belagerten Mariupol wird ein Entbindungshospital getroffen. In der Donbass-Stadt Popasna trifft eine (laut Genfer Konvention verbotene) Phosphorbombe ein Altersheim. Alle 60 Bewohner:innen kommen ums Leben.

14. März 2022: Die britische Regierung meldet, dass die russische Marine alle Seewege aus der Ukraine blockiert. Die UN schlagen Alarm, weil ohne ukrainisches Getreide eine weltweite Hungersnot droht. Nur unter größten Schwierigkeiten kann Kiew die Landwirtschaft aufrechterhalten.

Ende März 2022: Das Kampfgeschehen konzentriert sich zunehmend auf Mariupol. Russland nutzt international vereinbarte „humanitäre Korridore“ zum Beschießen der flüchtenden Bevölkerung oder um sie nach Russland zu deportieren. Im Laufe des Jahres werden die Deportationen systematisiert, die Menschen bekommen russische Pässe verpasst und werden in Russland quasi in Hausarrest gehalten. Deportierte Kinder werden indoktriniert. Genau Zahlen dieser Kriegsopfer sind nicht bekannt; sie gehen mutmaßlich in die Hunderttausende.

Ende März 22: Das Kampfgeschehen konzentriert sich zunehmend auf Mariupol.
Ende März 22: Das Kampfgeschehen konzentriert sich zunehmend auf Mariupol. © IMAGO/Maximilian Clarke

3. April 2022: Einer der zahllosen Propagandisten des Kreml erklärt bei der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti, das Ziel Russlands sei „die Vernichtung der Ukraine als Staat“. Danach werde man das dortige Volk prüfen, ob es zu sehr „nazifiziert“ sei, um noch eine Zukunft in der „neuen Welt“ (Euphemismus für die zu rekonstruierende Sowjetunion) zu haben. Internationale Holocaust-Verbände protestieren gegen die Umdeutung von Begrifflichkeiten durch den Kreml. Manche Beobachter:innen sehen sich bestätigt in ihren seit Jahren vorgetragenen Warnungen, Putins Russland habe sich zugunsten einer „hyperrealen“ Fantasie von der faktischen Realität verabschiedet.

April 2022: Die Offensivkraft der Invasoren ist an allen Frontabschnitten verpufft. Westliche Fachleute schätzen, dass Russlands beste Einheiten am ukrainischen Widerstand weitgehend aufgerieben wurden. Wie als Beleg dafür greifen russische Artillerie und Luftwaffe immer öfter mit ungelenkten Geschossen wahllos zivile wie militärische Objekte an.

Mai 2022: Russische Stellen – von Frontkommandos bis zum Kreml – behaupten mehr und mehr, dass man „alles erreicht“ habe, was man wollte und es jetzt „nur noch“ um die „Befreiung“ oder „Konsolidierung“ der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk gehe.

20. Mai 2022: Die letzten, nicht ganz 2000 Verteidiger:innen des Asowstal-Werkes in Mariupol geben auf. Nach gut zwei Monaten des Bombardements ist von der Stadt kaum noch etwas übrig geblieben. Die Bilder der Trümmerwüste werden international zum Sinnbild der russischen Zerstörungswut. Im August beginnen die Russen, die Trümmer von Mariupol einzureißen.

23. Mai 2022: Die russischen Verluste seit Beginn der Invasion haben nach westlichen Beobachtungen die Ausmaße derer der Sowjetarmee nach neun Jahren Krieg in Afghanistan erreicht: an die 15 000.

Frühsommer 2022: In Russland wird erstmals Kritik an der Kriegsführung laut. Die städtische Jugend skandiert „Scheiß-Krieg!“, es gibt Attacken auf Rekrutierungsbüros, Soldaten verweigern Marschbefehle, greifen Vorgesetzte an und prangern über die sozialen Medien die Korruption der oberen Ränge an. Selbsternannte Kriegskorrespondenten („Milblogger“) und extremistische Offizierskreise fordern die komplette Militarisierung Russlands und einen offenen Vernichtungskrieg gegen den Westen. Der BND berichtet von russischen Neonazis, die sich zum Einsatz gegen die Ukraine freiwillig melden.

Ukrainische Verteidiger feuern im südlichen Donbass auf russische Stellungen.
Ukrainische Verteidiger feuern im südlichen Donbass auf russische Stellungen. © Aris Messinis/afp

Juni 2022: Die ersten lokalen Gegenstöße ukrainischer Kräfte zeigen Erfolg. Die Russen kämpfen weiterhin um bestenfalls propagandistisch bedeutsame Orte im Donbass, aber die Ukrainer zeigen sich strategisch, taktisch, technisch und von der Kampfmoral her überlegen. Der zentrale Frontabschnitt favorisiert durch die zahlreichen Flüsse dort die flexibler agierenden Ukrainer mehr als die schwerfälligen Russen. Erstmals werden Partisaneneinheiten im Rücken der russischen Front aktiv.

Mitte Juni 2022: Die Russen versuchen verbissen, einen Frontbogen bei Sjewjerodonezk einzudrücken. Ein Erfolg würde Truppen für andere Operationen freisetzen – allerdings auch die Front der Ukrainer verkürzen und ihnen damit Handlungsspielraum geben. Dort in der Oblast Luhansk erproben die Ukrainer erstmals das systematische „Ausbluten“ von Feindverbänden durch hinhaltenden Widerstand aus vorbereiteten Stellungen heraus.

24. Juni 2022: Die Ukrainer geben das zu 90 Prozent zerstörte Sjewjerodonezk auf. Das ist in diesem Augenblick ein Schlag für die Kampfmoral der Nation. Schwer wiegen die bislang verzeichneten Verluste an Mensch und Material im Land: 30 bis 40 Prozent, verlautbart der ukrainische Generalstab.

Ukrainische Soldaten in der Nähe von  Lyssytschansk.
Ukrainische Soldaten in der Nähe von Lyssytschansk. © Anatolii Stepanov/afp

3. Juli 2022: Die Ukrainer ziehen sich aus Lyssytschansk zurück, der letzten großen Stadt in der Oblast Luhansk. Weiterer Widerstand dort erscheint ihnen sinnlos.

Juli 2022: Die Ukrainer beziehen neue Verteidigungsanlagen auf der Höhe von Bachmut. Beide Seiten sind offenbar so erschöpft, dass erstmals keine größeren Kämpfe im Donbass stattfinden.

10. Juli 2022: Es heißt, Selenskyj habe die Befreiung der südlichen Ukraine befohlen. Damit beginnt eine großangelegte Desinformationskampagne, an deren Ende der Frontverlauf sich deutlich verändert haben wird. Ende Juli verlegen die Russen Truppen aus ihrem Hauptangriffsgebiet im Donbass nach Süden. Bei Cherson und Saporischschja kommt es immer wieder zu kleinen Vor- und Gegenstößen. Das AKW Saporischschja wird nun praktisch täglich beschossen.

1. August 2022: Dank türkischer und UN-Vermittlung kann ein erster ukrainischer Getreidefrachter unbehelligt durch das Schwarze Meer und den Bosporus fahren. Währenddessen stehlen Russen und Separatisten Teile der ukrainischen Ernte und verschiffen sie von der Krim aus.

29. August 2022: Ausgreifende Gefechte bei Cherson deuten auf die von Selenskyj befohlene Offensive hin.

Zerstörte Brücke in Staryi Saltiv im Osten von Charkiw.
Zerstörte Brücke in Staryi Saltiv im Osten von Charkiw. © Sergey Bobok/afp

Anfang September 2022: Die tatsächliche ukrainische Gegenoffensive entwickelt sich bis in den Oktober hinein im Norden bei Charkiw. Dort und im Donbass sind die russischen Kräfte geschwächt und ausgezehrt. Die Ukrainer machen deutliche Geländegewinne und vertreiben die Russen aus der unmittelbaren Umgebung von Charkiw. Die russische Front im westlichen Donbass bei Bachmut droht von ihren Versorgungsbasen abgeschnitten zu werden.

September 2022: Der Kreml ordnet offen eine Teilmobilmachung im Land an. 300 000 Reservisten sollen mobilisiert werden. Daraufhin bilden sich Autokonvois aus dem Land flüchtender Russen in alle Himmelsrichtungen.

Oktober bis Mitte November 2022: Das vermeintliche Ablenkungsmanöver einer ukrainischen Süd-Offensive erweist sich als echt: Die ukrainischen Kräfte stoßen bei Cherson bis an den Dnipro vor und befreien schließlich sogar die Stadt Cherson selbst.

Ukrainische Soldaten erweisen dem gefallenen Handballspieler Yevgen Kolesnichenko die letzte Ehre.
Ukrainische Soldaten erweisen dem gefallenen Handballspieler Yevgen Kolesnichenko die letzte Ehre. © Sergei Supinsky/afp

8. Oktober 2022: Bei einer Explosion stürzen zwei Teilstücke der 19 Kilometer langen Krim-Brücke bei Kertsch ein, die Russland und die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel verbindet. Der Kreml spricht von einem Terroranschlag durch die Ukraine. Kiew schweigt dazu.

Von November 2022 an: Nachdem sich die Fronten im Süden und Norden wieder stabilisieren, intensivieren die Russen ihre seit Invasionsbeginn schon laufenden Terrorangriffe mit Artillerie, Raketen und Drohnen auf zivile Ziele. Kiew befürchtet durch das Ausschalten kritischer Infrastruktur einen gefährlichen Kältewinter. Die Menschen versuchen trotzdem, einen möglichst friedlichen Alltag zu leben.

23. November 2022: Das EU-Parlament verurteilt Russland als staatlichen Unterstützer von Terrorismus.

21. Dezember 2022: Präsident Selenskyj unternimmt seine erste offizielle Auslandsreise seit Beginn der Invasion nach Washington. Vor dem US-Kongress dankt er den Vereinigten Staaten für ihre Unterstützung. Trump-treue Republikaner brüskieren ihn.

Februar 2023: Nach London und Paris reist Selenskyj nach Brüssel. In einer emotionalen Rede im Europaparlament bedankt er sich für die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger der EU. US-Präsident Biden besucht überraschend Kiew.

24. Februar 2023: Der Kampf um die strategisch eigentlich wertlose Stadt Bachmut entwickelt sich zum Massaker. Beide Seiten erleiden hohe Verluste. Die Söldner-Firma „Wagner“ übernimmt auf russischer Seite die Hauptlast. Die Ukrainer bleiben bei ihrer bereits erprobten Taktik, den Russen so viele Verluste wie möglich zuzufügen. (Peter Rutkowski, mit dpa)

In einer früheren Version des Artikels wurde die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten Menschen mit 18,6 Millionen angegeben. Tatsächlich lag die Zahl zu dem damaligen Zeitpunkt bei 8,1 Millionen. Wir haben die Zahl korrigiert und bitten um Entschuldigung.

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