Veränderung auf Satellitenbildern: Russland bereitet Stationierung von Atomwaffen in Belarus vor

Sollte Russland Atomwaffen in Belarus stationieren, würde das Land die Rolle übernehmen, die es in der Sowjetunion innehatte – als vorgelagerte Verteidigungslinie des russischen Imperiums.
Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Europe.Table am 02. Mai 2023.
Moskau/Minsk – Belarussische Soldaten üben bereits den Einsatz der Kurzstreckenrakete Iskander in Russland. Und Belarus bereitet offenbar schon die Lagerung und die Stationierung von russischen Atomwaffen vor. Gleich mehrere Orte – alte sowjetische Flugplätze und Stützpunkte – kommen dafür infrage. Zwei von ihnen stechen aufgrund ihrer Geschichte und ihrer geografischen Lage hervor:
- Nowokolosowo südwestlich von Minsk
- Lida an der Grenze zu Litauen und Polen
In Nowokolosowo, ehemals Stolbtsy-2, befand sich bis 1992 das Arsenal der 25. Einheit der Strategischen Raketenkräfte der Sowjetunion. Es war das einzige Lager für strategische Atomwaffen in Belarus. Dort sollen 1.120 nukleare Sprengköpfe gelagert worden sein. Offiziell existierte dieser Ort nicht.
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Nach dem Abzug der sowjetischen Atomwaffen und Trägerraketen aus Belarus Ende 1996 bekam Nowokolosowo eine neue militärische und zivile Bedeutung. Dort ist jetzt zum einen das Arsenal der belarussischen 25. Einheit ballistischer Raketen untergebracht, zum anderen sollen einige alte Hallen als Lager für zivile Produkte vermietet worden sein. Nach Informationen von Table.Media sind den zivilen Nutzern dieses Geländes die Mietverträge gekündigt worden.
Satellitenbilder zeigen Veränderungen auf dem Gelände
Wie Satellitenbilder von Vertical52, die Table.Media exklusiv ausgewertet hat, zeigen, sind zwischen August 2021 und Ende 2023 vier große überdachte Abstellflächen auf dem Militärstützpunkt entstanden. Auf dem aktuellen Foto ist auch sichtbar, dass größere Flächen auf dem Gelände gerodet worden sind. Auf dem gesamten Gelände ist mehr Militärtechnik zu sehen als auf dem Bild vom 2021.
Die geografische Lage von Nowokolosowo ist günstig: Der Stützpunkt liegt an der wichtigen Fernstraße M1, Nordost-Südwest-Richtung, und zwischen zwei Fernstraßen, die in Ost-West-Richtung verlaufen. Zur polnischen, litauischen und zur ukrainischen Grenze gibt es gute Verbindungen. Auch eine eigens zum Militärgelände verlegte Eisenbahnlinie ist vorhanden. Ob sie betriebsbereit ist, ist unklar.
Neben Nowokolosowo gilt der Flugplatz Lida als möglicher Lagerort, von dem aus russische Jets mit Atomwaffen starten könnten. Dieser alte Flugplatz im Westen des Landes befindet sich nur wenige Kilometer von den Nato-Staaten Polen und Litauen entfernt. Südlich davon war zur Zeit der Sowjetunion eine Atomraketen-Einheit stationiert. Von diesem Ort war am 27. November 1996 die letzte sowjetische Topol-Atomrakete nach Russland verlegt worden.
Auf dem heutigen Flugplatz seien laut Nikolai N. Sokow die Kampfflugzeuge SU-25 stationiert, die Atombomben tragen können. Etwa zehn SU-25 wurden angeblich bereits technisch modifiziert. Sokow ist Senior Fellow am Wiener Zentrum für Abrüstung und Nichtverbreitung (VCDNP). Er war lange Mitarbeiter des russischen Außenministeriums und an den Verhandlungen der Atomabrüstungsverträge START I und II beteiligt. Auf Nachfrage hält er neben Lida auch Nowokolosowo als einen Lagerort für Atomwaffen für möglich. Journalisten des unabhängigen belarussischen Fernsehsenders Belsat halten das Gelände gar für den wahrscheinlichsten Ort, an dem russische Atomwaffen gelagert werden könnten.
„Es hängt vom Verhalten der Nato ab“
Sokow betont jedoch, dass es unerheblich sei, wo russische Atomwaffen stationiert würden. „Wichtiger ist die Frage, ob es dazu wirklich kommt. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab“, sagt der ehemalige Diplomat gegenüber Table.Media. Die Wahrscheinlichkeit wachse. „Ich bin noch nicht bereit, eine konkrete Vorhersage zu geben, aber die Entwicklung läuft stetig so, dass es zu einem Transfer kommt. Vieles wird nicht so sehr davon abhängen, was in der Ukraine passiert, sondern vom Verhalten der Nato und besonders Polens.“
Sokow warnt vor einer zu schnellen Reaktion der Nato und vor einer Verlegung von amerikanischen B-61- Atombomben nach Polen. „Damit würde die Nato das russische Spiel spielen und die Eskalation beschleunigen.“ Bisher deutet nichts darauf hin, dass die Nato trotz der Wünsche Polens über eine Verlegung von Atomwaffen in die östlichen Mitgliedstaaten nachdenkt.
Der belarussische Oppositionelle Pawel Latuschka geht davon aus, dass der von der EU nicht anerkannte Präsident Aleksander Lukaschenko russische Atomwaffen auf jeden Fall haben wolle. „Er sichert damit auch seine Macht ab. Die Waffen werden kommen“, sagt Latuschka im Gespräch mit Table.Media. Der ehemalige Kulturminister leitet die oppositionelle Organisation National Anti-Crisis Management (NAM), die in Polen ihren Sitz hat.
Er wirft der EU vor, die Rolle von Belarus im russischen Krieg zu unterschätzen. „Täglich werden dort Regimegegner verhaftet, die belarussische Armee bildet russische Soldaten aus und versorgt sie mit Munition und Technik.“ Außerdem sei das Regime auch an der Deportation ukrainischer Kinder beteiligt. „Seit elf Monaten gibt es keine schärferen Sanktionen gegen Minsk“, klagt der 50-Jährige.
Belarus prüft Einsatzbereitschaft von Reservisten
Lukaschenko und Wladimir Putin würden mit einem möglichen Einsatz einer Atomwaffe von Belarus aus auf Verwirrung setzen. Latuschka erläutert: „Wenn russische Atomwaffen mit belarussischen Trägersystemen von belarussischem Boden aus abgeschossen werden, dann ist nicht eindeutig klar, wer die Verantwortung trägt. Der Westen wird diskutieren und am Ende nichts unternehmen, was Putin und Lukaschenko abschreckt.“
Neben den Übungen in Russland für die Iskander-Raketen, die nach Angaben von Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu bereits an Belarus übergeben wurden, trainieren belarussische und russische Streitkräfte derzeit auch gemeinsam in Belarus. Latuschka bestätigt Medienberichte, dass aktuell die Einsatzbereitschaft belarussischer Reservisten geprüft werde.
„Es gibt 40.000 Reservisten, 40.000 in der Armee und die russischen Soldaten im Land. Zusammen sind es vielleicht 100.000 Mann.“ Auf die Frage, ob Lukaschenko bisher nicht ausdrücklich vermieden habe, aktiv in den Krieg einzugreifen, sagt der ehemalige Minister: „Das stimmt. Aber wenn Putin es ihm befiehlt, dann wird er es tun.“ (Von Christian von Hiller)