Dörfer fluten, Brücken sprengen: Ukraine zerstört Infrastruktur, um Russland auszubremsen

Um Russland den Vormarsch zu erschweren, macht die Ukraine ihr eigenes Land kaputt. Nördlich von Kiew wird ein ganzes Dorf absichtlich überschwemmt.
Demydow – Wenn Menschen ihr eigenes Zuhause zerstören, muss etwas Schlimmes vorgefallen sein. Im Ukraine-Konflikt scheint es so, als sei selbst dieses Instrument nötig, um den Angriffskrieg von Russlands Präsident Wladimir Putin zu stoppen. 300 Brücken sind seit Kriegsbeginn zerstört, sagt Oleksandr Kubrakow, der ukrainische Minister für Infrastruktur. Nördlich von Kiew haben Ukrainer sogar ein ganzes Dorf geflutet. Wie im Mittelalter konnten sie so eine Art Wassergraben anlegen, der den russischen Truppen den Vormarsch extrem erschwert. Die Einwohner unterstützen diese militärische Taktik, auch wenn sie fast alles verlieren.
Die „New York Times“ berichtet aus einer Überschwemmungsregion rund um Demydow, einem 3.700 Einwohner-Dörfchen im Norden von Kiew. Wer sich die Region auf der Karte anschaut, wird feststellen: Wenige Meter östlich von Demydow liegt die Dnepr, ein 2201 Kilometer langer Strom, der durch Russland, Belarus und die Ukraine fließt. Viel entscheidender als die Länge ist allerdings die Breite. Auf Höher des Dorfes ist die Dnepr rund zehn Kilometer breit - unfassbar große Wassermassen, die am 25. Februar in den Krieg eingreifen.
Ein Dorf verteidigt die Hauptstadt der Ukraine: „Wir haben Kiew gerettet“
An diesem Tag öffnen Ukrainer einen nahe gelegenen Damm und überfluten das Dorf absichtlich. Das Wasser überschwemmt große Teile in Demydow und die umliegenden Flächen, der Boden wird matschig und sumpfig. Es entsteht ein ausgedehnter, flacher See. Die russischen Panzerkolonnen kommen nur schwer voran, der Angriff auf Kiew gerät ins Stocken. Ein Erfolg, den die Einheimischen auch für sich reklamieren: „Wir haben Kiew gerettet“, sagen sie. Der Preis, den sie zahlen: Ihre Häuser werden ebenfalls von den Wassermassen verschluckt. Der finanzielle Preis dieser landesweiten Zerstörungen ist immens und beläuft sich nach Angaben der ukrainischen Regierung auf 85 Milliarden Dollar.
Das eigene Gebiet so genau zu kennen ist ein riesiger Vorteil, wenn man strategisch wichtige Infrastruktur kaputt macht, sagen Militärexperten wie Marta Kepe vom Think Tank Rand Corp, der die US-Streitkräfte berät. „Wenn man verteidigt, versucht man das zu nutzen, was man hat“, erläutert er im „Stern“. Die „Politik der verbrannten Erde“ spielt eine wichtige Rolle für den Erfolg der Ukraine. Die Geschichte dieser Taktik geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Auch im zweiten Weltkrieg sei Wasser vor allem von Finnland und der Sowjetunion als Verteidigungslinie genutzt worden, sagt Kepe. Dennoch gilt die Maßnahme als „letztes Mittel“. Denn danach ist nichts mehr wie es vorher war.
Ukrainer verlieren ihre Häuser: „Das war es wert“
Viele Ukrainer nehmen die Zerstörung ihres eigenen Hab und Guts einigermaßen gelassen in Kauf. Die „New York Times“ sprach zum Beispiel mit Roman Bykhovchenko, 60 Jahre alt, ein Wachmann, der seine durchnässten Schuhe auf einem Tisch in seinem Garten trocknet. In seiner Küche sprudelt das Wasser durch Risse in den Dielen. Dennoch sagt er: „Das war es wert.“
Eine Rentnerin entschuldigt sich für die Haufen von Handtüchern, die auf dem Boden liegen, als sie die Schäden an ihrem Haus zeigt: „Es tut mir leid, dass es so unordentlich ist.“ Sie beklagt, dass ihr Garten, der jetzt ein flacher Teich ist, dieses Jahr wohl nicht mehr bepflanzt werden kann. Vielleicht könne sie nun Reis anbauen, scherzt sie. (Max Müller)