Wie Deutschland ohne russisches Gas auskommen könnte
„Fridays for Future“ fordern bei ihrem Streik einen Lieferstopp für russisches Gas. Fachleute halten den fast vollständigen Verzicht für machbar – bei erheblichen Anstrengungen.
Frankfurt – Die Bilder der zerbombten ukrainischen Stadt Mariupol und der Kämpfe bei Charkiw gab es noch nicht. Trotzdem stand schon vor zwei Wochen eine Mehrheit für einen Stopp der Erdgas- und Erdöl-Importe aus Russland. Mehr als die Hälfte der Deutschen (55 Prozent) waren laut einer ZDF-Umfrage dafür, um die Finanzierung der Militärmaschinen von Kreml-Chef Wladimir Putin zu stoppen. Und zwar auch für den Fall, dass es dann hierzulande zu Versorgungsproblemen kommt. Rund 39 Prozent waren dagegen.
Inzwischen dürfte die Zustimmung noch größer sein. Kein Wunder, dass auch die Aktiven von „Fridays for Future“, die an diesem Freitag (25.03.2022) zu ihrem zehnten globalen Klimastreik aufrufen, der Ampel-Koalition Druck machen: „Die Regierung ist in der Pflicht, die Importe zu stoppen und die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu beenden.“ Sie befürchten mit Blick auf Vizekanzler Robert Habecks (Grüne) jüngste Touren zu den Erdgas-Lieferländern Norwegen, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Ampel sei gerade dabei, „neue fossile Abhängigkeiten zu erschaffen“.
Ukraine-Krieg: Rund 55 Prozent des Gases für Deutschland kommen aus Russland
Beim Gas ist Deutschland am stärksten von Russland abhängig. Rund 55 Prozent kommen von dort, und die Lieferverträge werden bisher weiter erfüllt. Das Gas fließt, auch über eine Pipeline durch die Ukraine. Wie dramatisch die Folgen eines russischen Erdgas-Stopps wären, darüber gehen die Meinung auseinander. Die Industrie warnt, es drohten Einbrüche, etwa in der Chemiebranche. Der Bundesverband der Deutschen Industrie befürchtet „Produktionsunterbrechungen, Beschäftigungsausfälle und in einigen Fällen massive Schäden an Produktionsanlagen“. Auch Bundeswirtschafts- und Klimaminister Habeck mahnt, es gebe die Gefahr, dass die Versorgungssicherheit hierzulande zusammenbreche. Der leitende Energieexperte des Öko-Instituts, Felix Matthes, sagte im Falle von Lieferausfällen aus Russland für die „nächsten drei Winter ein richtiges Problem“ voraus. Es drohten drastische Energiebeschränkungen in der Wärmeversorgung und ein Abbau in der Industrie.

Doch es gibt auch andere Bewertungen der Lage. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hatte die Folgen eines Lieferstopps für die deutsche Volkswirtschaft in einer Stellungnahme unlängst als „handhabbar“ bezeichnet. Durch die schnelle Umsetzung eines Maßnahmenpakets könnten „Engpässe vermieden und ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen abgefedert werden“.
Russisches Gas: Staat müsste bei einem Lieferstopp ärmere Haushalte unterstützen
Eine aktuelle Studie zeigt, dass die bei einem Gas-Lieferstopp nötigen Einsparungen bei den Energieträgern nahezu erreicht werden können, allerdings nur mit erheblichen Anstrengungen, etwa beim Wechsel von Brennstoffen und bei der Energieeffizienz. Der Staat müsste sowohl ärmere Haushalte wegen steigender Heizkosten als auch die Industrie bei Produktionsausfällen unterstützen. Ein Entlastungspaket für Bürgerinnen und Bürger will die Ampel-Koalition tatsächlich auf den Weg bringen, wie am Donnerstag bekannt wurde.
Der Thinktank Agora Energiewende hat in der Untersuchung grundsätzlich analysiert, wie schnell Deutschland seinen Erdgasbedarf senken kann. Ergebnis: Binnen fünf Jahren wäre eine Reduktion um ein Fünftel respektive 200 Terawattstunden zu schaffen, und zwar durch eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz, den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Umstellung von Heizungen auf Wärmepumpen und die Elektrifizierung von Herstellungsprozessen in der Industrie. Das reicht bei einem plötzlichen Wegfall der russischen Gasimporte natürlich nicht. Deutschland müsste den Verbrauch trotz teilweiser Umstellung auf andere Erdgas-Lieferländer kurzfristig noch stärker senken.
Die Untersuchung analysiert zwei Stufen, in denen die Hälfte beziehungsweise 90 Prozent des Einsparbedarfs bei einem Ausfall russischer Importe gedeckt werden könnten. In der ersten Stufe wären moderate bis starke Einschränkungen etwa beim Heizen und Produktionskürzungen in der Industrie nötig. Dazu gehören die Absenkung der Raumtemperatur in allen Gebäuden um 0,5 bis 1,5 Grad Celsius plus kleinere Schritte bei der Effizienz wie das Abdichten von Fenstern. Weitere, sofort mögliche Schritte wären der Ersatz von Gaskraftwerken zur Strom- und Wärmeerzeugung durch zusätzliche erneuerbare Energien oder einen Rückgriff auf Kohle oder Öl. In der Industrie wäre der Umstieg auf andere Brennstoffe für die Prozesswärme im Umfang von 15 Prozent erforderlich. Zudem würde die Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie halbiert.
Russisches Gas: „Alle Kräfte bündeln, um der fossilen Energiekrise strukturell zu begegnen“
In der zweiten Stufe ginge es härter zur Sache: Raumtemperatur um ein bis 1,5 Grad Celsius senken, Erdgas in der industriellen Prozesswärme zu 33 Prozent ersetzen und nur noch ein Viertel Erdgas in der Chemieproduktion gegenüber dem Niveau von 2021 nutzen. Agora schreibt: „Die Produktion würde damit zum Teil aufrechterhalten werden, um Unterbrechungen von Lieferketten durch Kaskadeneffekte entgegenzuwirken.“
Allerdings müsste das alles gut koordiniert werden, so die Fachleute. „Zur Krisenbewältigung braucht es sowohl eine Industrie, die ihre Handlungsoptionen voll ausschöpft, als auch – ähnlich wie in der Corona-Pandemie – einen staatlichen Schutzschirm für die Unternehmen“, sagte Agora-Direktor Simon Müller. Dazu gehörten die Deckung von Betriebskosten im Fall von Produktionsausfällen und ein Schutz für die Beschäftigten durch Kurzarbeit. Zudem brauche es eine breit angelegte Informationskampagne zum Energiesparen und für Effizienz. „Die Bundesregierung muss soziale Härten infolge steigender Energiekosten abfedern. Vor allem die einkommensschwachen Haushalte brauchen zudem finanzielle Unterstützung für Energieeffizienzmaßnahmen.“
Noch ist unklar, ob solch radikale Eingriffe nötig werden. Der Thinktank betont jedoch, die Bundesregierung müsse nun „zusammen mit der Bevölkerung und der Industrie alle Kräfte bündeln, um der fossilen Energiekrise vor allem strukturell zu begegnen“. (Joachim Wille)