Explosivwaffen im Ukraine-Krieg: „90 Prozent der Opfer sind Zivilisten“

Laura Boillot, Expertin für Abrüstung, spricht im Interview über den tödlichen Einsatz von Explosivwaffen in Städten und den Versuch, diese Praxis einzudämmen.
Frau Boillot, die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine mit großer Brutalität vor. Putins Truppen zertrümmern mit Artillerie, Raketen und anderen Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung Städte und Dörfer, sie verletzen und töten damit Tausende Zivilisten. Wie soll die internationale Gemeinschaft darauf reagieren?
Die Regierungen müssen sich dringend auf ein internationales Abkommen über Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung einigen. Der Einsatz dieser Waffen in bewohnten Gebieten muss vermieden werden. Sie richten in einem besiedelten Gebiet erheblichen zivilen Schaden an, selbst dann, wenn sie auf ein militärisches Ziel gerichtet sind. Direkte Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele sind gemäß Völkerrecht zwar verboten, aber die Nutzung von schweren Explosivwaffen ist in Konflikten nicht per se illegal.
Warum sind diese Waffen so verheerend?
Schwere Explosivwaffen sind für den Einsatz auf offenen Schlachtfeldern konzipiert. Die Explosionen erzeugen enorme Druckwellen, das Verschleudern von Splittern und Brände. Sie haben fürchterliche Folgen, wenn sie in bewohnten Gebieten mit ziviler Infrastruktur eingesetzt werden. Daten zeigen, dass beim Einsatz von schweren Explosivwaffen in bewohnten Gebieten 90 Prozent der Opfer Zivilisten sind. Jedes Jahr werden Zehntausende Zivilisten durch Bombardierungen und Beschuss in Städten und anderen bewohnten Gebieten getötet, verstümmelt, verletzt und traumatisiert. Wohnhäuser, Hospitäler, Schulen, Stromnetze, Wasser- und Abwassersysteme werden beschädigt und zerstört. Die Kriegsgeräte machen die urbanen Flächen unbewohnbar und zwingen Menschen in die Flucht. Besonders verheerend ist der Gebrauch von veralteten, ungenauen Waffen und von Systemen mit einem weiten Explosions- und Splitterradius.
Um was für Arten von Waffen geht es genau?
Es handelt sich etwa um Fliegerbomben, Artilleriegeschosse, Raketen, Panzergranaten sowie unkonventionelle oder behelfsmäßige Spreng- und Brandvorrichtungen. Eine Salve von 40 Geschossen aus einem mehrläufigen Raketenwerfer kann ein tödliches Feld von 360 000 Quadratmetern erzeugen. Alle Menschen in diesem Zielgebiet befinden sich in Lebensgefahr.
Nicht nur im Ukraine-Krieg werden schwere Waffen gegen Zivilist:innen eingesetzt
Es scheint, dass bestimmte Militärs mehr und mehr mit schweren Explosivwaffen bewohnte Gebiete angreifen.
Ja. Wir beobachten den Einsatz dieser Waffen gegen Zivilisten und zivile Ziele nicht nur in der Ukraine. In anderen Konflikten nutzen die Parteien diese Rüstungsgüter zum Beschuss von Städten und Siedlungen, in Äthiopien, im Irak, im Gaza-Streifen, im Jemen, in Syrien. Im vergangenen Jahrzehnt waren 123 Länder oder Territorien vom Einsatz schwerer explosiver Waffen betroffen. Es ist ein globales Problem.
Zur Person und Zur Sache
Laura Boillot ist Abrüstungsexpertin und setzt sich für die Abschaffung bestimmter Waffengattungen ein. Sie war Direktorin der Cluster Munition Coalition (CMC). Die CMC drängte auf die Aushandlung des Übereinkommens über das Verbot von Streumunition und seiner Umsetzung.
Die Haager Abkommen von 1899 und 1907 sowie die Genfer Abkommen von 1949 mit ihren Zusatzprotokollen bilden das Fundament des humanitären Völkerrechts. Das humanitäre Völkerrecht soll das menschliche Leid in bewaffneten Konflikten vermindern und baut auf Prinzipien wie der Unterscheidung auf. Danach müssen laut Auswärtigen Amt die Konfliktparteien „jederzeit zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten unterscheiden“. Es darf also nicht „unterschiedslos“ geschossen werden. Weder die Zivilbevölkerung als Ganzes noch Einzelne dürfen angegriffen werden. Angriffe dürfen ausschließlich auf militärische Ziele erfolgen.
Militärische Ziele können aber in Siedlungsgebieten liegen und Attacken darauf mit schweren Explosivwaffen sind nicht prinzipiell verboten. Andererseits muss jede Partei ihre Zivilbevölkerung so gut wie möglich vor Angriffen schützen, etwa indem die Menschen von militärischen Zielen entfernt untergebracht werden. jdh
Unter der Federführung von Irland verhandeln rund 65 Staaten eine politische Erklärung über diese Waffen, die im Juni in Genf angenommen werden könnte. Dabei geht es nicht um einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag. Glauben Sie, dass Russlands Präsident Putin sich um die Vorgaben schert?
Ich bin mir natürlich nicht sicher, ob Russland sich von einer politischen Deklaration beeindrucken lässt. Die Russen haben bei den letzten Beratungen nicht mitgemacht. Offensichtlich befinden wir uns hier erst am Anfang eines internationalen Prozesses. Die Vermeidung des Einsatzes dieser Waffen könnte sich langsam zu einem Standard entwickeln.
Ukraine-Krieg: Einsatz von Explosivwaffen sollte eingeschränkt werden
Wie sieht die Position anderer Militärmächte bei den Verhandlungen aus?
Die USA und Großbritannien zeigen sich zurückhaltend, ebenso weitere Nato-Staaten. Jedoch spielen Deutschland und Frankreich eine konstruktive Rolle.

Welche Elemente könnte die Erklärung konkret aufnehmen?
Die Erklärung zielt darauf ab, die Schäden für die Zivilbevölkerung zu verringern und deren Schutz sowohl während als auch nach einem Konflikt zu verstärken. Konkret geht es um die Verpflichtung, den Einsatz schwerer Explosivwaffen in bewohnten Gebieten einzuschränken. Weiter geht es um eine Unterstützung der Opfer, einschließlich der Familien der Getöteten und Verletzten. Staaten sollen Daten über zivile Schäden durch den Einsatz schwerer Explosivwaffen sammeln und die Umsetzung des Abkommens überwachen.
Wieso untersagten die Staaten nicht schon 1949 in den Genfer Konventionen den Einsatz der Explosivaffen mit großflächiger Wirkung in besiedelten Gebieten?
Damals wie heute fehlt es bei den Staaten an der Bereitschaft zum generellen Verbot. Deshalb muss der Einsatz wenigstens soweit wie möglich eingeschränkt werden. Ein generelles Verbot bleibt aber das Ziel. (Interview: Jan Dirk Herbermann)