Was passiert mit Putin, wenn Russland den Krieg verliert?
Experten haben mögliche Szenarien für eine Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg entwickelt. Was könnte dann mit dem russischen Präsidenten passieren?
Kiew / Moskau - Im Moment kann wohl niemand mit Sicherheit vorhersagen, wie und wann der Ukraine-Konflikt enden wird. Eine wichtige Rolle für den weiteren Verlauf des Krieges spielen die Handlungsoptionen, die Russlands Präsidenten Wladimir Putin in verschiedenen Szenarien des Konflikts bleiben. Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek hat jetzt Experten gefragt, wie Putin wohl in unterschiedlichen militärischen Konfliktverläufen reagieren könnte und was mit dem russischen Präsidenten bei einer Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg passieren würde.

Mögliche Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg: „Diktatoren verschwinden“
Sollte Wladimir Putin es nicht schaffen, den Krieg zu seinen Bedingungen zu gewinnen, könnte er gezwungen sein, zurückzutreten, sagte Boris Bondarev, ein ehemaliger russischer Diplomat gegenüber Newsweek. Bondarev war im Mai 2022 wegen Russlands Angriff auf die Ukraine von seinem Job als Rüstungskontrollexperte bei der russischen diplomatischen Vertretung in Genf zurückgetreten. „Putin kann ersetzt werden. Er ist kein Superheld. Er hat keine Superkräfte. Er ist nur ein gewöhnlicher Diktator“, so Bondarev.
„Und wenn wir uns die Geschichte ansehen, sehen wir, dass solche Diktatoren von Zeit zu Zeit ersetzt wurden. Wenn sie den Krieg verloren und die Bedürfnisse der Anhänger nicht befriedigen konnten, verschwanden sie normalerweise.“ Der ehemalige russische Diplomat schätzt gegenüber Newsweek die Lage so ein, dass die Russen sich im Fall einer Niederlage von Putin abwenden werden - wenn sie dann verstehen, dass der Krieg verloren ist und Putin ihnen nichts mehr bieten könne.
Es werde Enttäuschungen geben und Konflikte: „Ich denke, sobald sie sich von den Wahnvorstellungen verabschieden und sich in einer neuen Realität wiederfinden, in der Putin nichts liefern kann – nur Angst und eine Art Repressionsdrohung gegen sein eigenes Volk –, wird sich die Situation ändern“, so Bondarev weiter.
Drei Szenarien einer Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg
Vlad Mykhnenko, Experte für die postkommunistische Transformation Osteuropas an der Universität Oxford, hat gegenüber Newsweek jetzt drei mögliche Szenarien für eine Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg skizziert und erklärt, was dann jeweils mit Putin geschehen könnte. Hier die Szenarien:
- Der chaotische Rückzug: Durch eine starke, erfolgreiche ukrainische Offensive an einer oder mehreren Fronten kommt es zu einem „schnellen Zusammenbruch der Frontlinie“. Dadurch wird eine „riesige Panik unter 600.000 russischen Siedlern auf der Krim nach der Annexion von 2014 und russischen Kollaborateuren im Donbass“ ausgelöst, die dann versuchen werden zu fliehen. Putin wird in Moskau von den Silowiki - ranghohen Geheimdienstlern und Militärs - von der Macht verdrängt. Er hätte dann auch keine Chance mehr eine Atomwaffe einzusetzen, da sein Befehl auf mehreren Ebenen sabotiert wird.
- Ein Rückzug im Stil des Ersten Weltkrieges: „Ähnlich dem Zusammenbruch der russischen Armee 1916-1917“, dauert der Zermürbungskrieg lange an, bis die schlecht ausgerüsteten russischen Soldaten massenhaft desertieren, was zum Zusammenbruch der Frontlinie führt. Wegen der langsamen Entwicklung könnte Putin versuchen, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Er könnte sich darauf einlassen, zurückzutreten „um Platz für einen neuen Führer zu schaffen, vorausgesetzt, die Silowiki gewähren ihm Immunität vor Strafverfolgung“.
- Langer Krieg und erklärter Sieg: Der Krieg dauert noch mehrere Jahre an, die Fronten verschieben sich kaum und die Unzufriedenheit in der russischen Bevölkerung wächst. „In diesem Fall würden die Silowiki zusammen mit Wirtschafts- und Finanzeliten versuchen, mit Putin einen Deal auszuhandeln, um einen ‚Sieg‘ zu erklären“. Putin würde seine Macht an einen Nachfolger abgeben, hätte in diesem Szenario aber die meiste Verhandlungsmacht, um beispielsweise sein Leben zu retten.
Eine Niederlage im Ukraine-Krieg als „Sieg“ verkaufen
Auch der ehemalige Diplomat Bondarev sagte, Putin könnte versuchen, kleine Gewinne, die er in der Ukraine erzielt habe, als Sieg zu verkaufen: „Vielleicht kann er sagen, wenn er ein paar neue Dörfer hat, dass das ein Sieg ist, er hat die Ukrainer besiegt, er hat die Nation beschützt und er kann auch die Ukrainer und den Westen dafür verantwortlich machen, dass sie nicht bereit sind, unter diesen Bedingungen Frieden zu verhandeln“, so Bondarev gegenüber Newsweek. Der Diplomat ist jedoch nicht sicher, ob solch ein „Sieg“ die russische Elite und Bevölkerung davon überzeugen würde, dass er die gebrachten Opfer wert gewesen sei.
In den letzten Monaten erzielt Russland im Ukraine-Krieg nur geringe Gelände-Gewinne unter hohen Verlusten. Einige Putin-Kritiker gehen mittlerweile sogar schon von einer Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg aus, wie zuletzt der frühere russische Separatistenführer und Kriegsverbrecher Igor Girkin. (kasa)