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Ukraine-Krieg und Pazifismus: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat

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Von: Bascha Mika

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Pazifismus ist plötzlich nicht mehr zeitgemäß. Zivile Töne werden lautstark überstimmt. Sind wir auf dem Weg in eine militarisierte Gesellschaft?

Frankfurt – Der Schriftsteller Mark Twain hat nicht nur wunderbare Figuren wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn erfunden, sondern sich auch Gedanken zur menschlichen Natur gemacht. Klug stellte er fest: „Man vergisst vielleicht, wo man die Friedenspfeife vergraben hat. Aber man vergisst niemals, wo das Beil liegt.“ Mit anderen Worten: Gewalt als Mittel im Konflikt abzurufen, ist im menschlichen Bewusstsein stärker verankert als friedfertige Alternativen.

Wir haben erst ein Jahr Krieg hinter uns und wissen nicht, wie viele es noch sein werden. Alles, was mit uns geschieht, verstößt nicht gegen die Normalität, es ist die neue Normalität. Und dein Leben wird in dem Augenblick leichter, indem du begreifst, dass es nicht mehr leichter wird.

Pawlo Kasarsin, ukrainischer Soldat und Blogger

Noch zu Beginn des vergangenen Jahres hätte wohl niemand gedacht, dass sich Twains Beobachtung auch in den deutschen Verhältnissen widerspiegelt. War es nicht über viele Jahrzehnte eine weitverbreitete Haltung, Krieg und Gewalt als Mittel der Politik grundsätzlich abzulehnen? Ein erstaunlicher Prozess der Entmilitarisierung des Denkens hatte das Land erfasst, hatte das gesellschaftliche Leben und politische Entscheidungen zunehmend geprägt. Die Deutschen fühlten sich vom Krieg regelrecht abgestoßen – was sich in der diplomatisch basierten Außenpolitik ebenso niederschlug wie in der Marginalisierung der Bundeswehr oder der Verweigerung der Regierung, bei allen kriegerischen Anti-Terror-Einsätzen mitzumischen.

Doch dann kam mit dem 24. Februar 2022 die massivste Irritation und Erschütterung dieses Grundgefühls und veränderte die Parameter deutschen Denkens. Und Handelns. Ein vom Sowjetimperialismus besessener russischer Präsident ließ die Ukraine überfallen und zerschoss mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg die bislang geltende geopolitische Ordnung. Die Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine ist seitdem notwendig und geboten, damit sich das Land der Aggression erwehren kann. Es darf nicht sein, dass Putin und seine Soldateska ihr Ziel erreichen und die Souveränität des Nachbarlandes brutalstmöglich auslöschen.

tration for peace in Ukraine
Wahrer Diskurs braucht Vielfalt der Positionen: Friedensdemonstration für die Ukraine am 27. Februar 2022 in Berlin. © imago images/Bildgehege

Ukraine-Krieg: Jeder Zweifel wird als Feigheit vor dem Feind niedergemacht

Während die Menschen in der Ukraine seit einem Jahr um ihr Überlebensrecht kämpfen, hinterlässt der Krieg seine Spuren auch hierzulande. Anstelle der lang gehörten zivilen Töne sind nun eindeutig andere laut. Ein militarisiertes Denken schiebt sich öffentlich zunehmend in den Vordergrund – angetrieben durch eine Verkürzung der Diskurse auf immer schlagkräftigere Waffen, untermalt von einem lauter werdenden Chor der Entrüsteten, die jedes Bedenken als Feigheit vor dem Feind niedermachen.

Sind wir auf dem Weg in eine militarisierte Gesellschaft? Verschiedene Anzeichen sprechen in der Tat für eine Zäsur: Fragen der kollektiven Sicherheit werden in einen militärischen Kontext eingebettet; der materielle Status der Streitkräfte und ihre kulturelle Bedeutung werden deutlich gestärkt; militärische Gewalt als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln hat sich wie selbstverständlich ins Alltagsbewusstsein der Bevölkerung gefressen und wird in Teilen der Politik und weiten Teilen der Medien als alternativlos propagiert.

Wobei klar sein sollte, dass hier nicht von Militarismus die Rede ist, von der Dominanz militärischer Wertvorstellungen und Interessen in Politik und gesellschaftlichem Leben, die das Gemeinwesen militärischen Anforderungen unterwirft. Vielmehr geht es um Tendenzen – um eine Militarisierung der Gesellschaft als Prozess, der stellenweise offen, stellenweise verdeckt abläuft. Und der umso gefährlicher wird, je stärker er ziviles Denken untergräbt. Dabei lässt sich diese Entwicklung sowohl auf einer materiellen als auch einer diskursiven Ebene beobachten.

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

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Um die materielle Militarisierung zu beschreiben, liefert der Globale Militarisierungsindex (GMI) des Internationalen Konversionszentrums Bonn verlässliche Daten. Das Zentrum analysiert alljährlich bei 154 Staaten die Bedeutung des Militärapparats im Verhältnis zur Gesellschaft. Und stellt für 2022 fest: Die Anzahl schwerer Waffen ist weltweit auf ein so hohes Level gestiegen wie zuletzt 2012.

Für Deutschland haben sich die Bonner Wissenschaftler:innen mit dem Scholz’schen Sondervermögen befasst und der angekündigten Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Untersucht wurde, wie sich die Bundeswehrpläne auf den Militarisierungsgrad der Gesellschaft in den kommenden vier Jahren auswirken werden. Das Szenario: Sollten sich die anvisierten Ziele der Bundeswehr im Bereich Personal, Ausgaben und Beschaffung erfüllen, wird Deutschland 2027 „wahrscheinlich einen Militarisierungswert von 131 erreichen und damit eine deutliche Militarisierungsdynamik im Vergleich zu 2022 aufweisen“. Im Globalen Militarisierungsindex würde die Bundesrepublik dann Platz 89 belegen, so das Konversionszentrum. Das sind 14 Ränge höher als bisher.

Ukraine-Krieg: Was für bedrückende, bedrohliche Aussichten!

Was für bedrückende, bedrohliche Aussichten! Was für ein Schlag gegen alle, die eine Militarisierung demokratischer Politik zu Recht als zivilisatorischen Rückschritt verurteilen. Selbst wenn sich die Ressourcenverteilung nicht unmittelbar auf die Kriegs- und Gewaltbereitschaft einer Gesellschaft auswirkt, werden hier Mittel verschlungen, die in der zivil-präventiven Krisen- und Konfliktbearbeitung fehlen.

Blickt man neben der materiellen auf die diskursive Militarisierung des Landes, lässt sich auch nichts Erfreuliches feststellen. Die Reaktionen auf die jüngst veröffentlichten Aufrufe zu Friedensverhandlungen sprechen eine hässliche Sprache. Als „politobszön“ und „amoralisch“ kommentiert die taz das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte „Manifest für Frieden“. Weil Deutschlands bekannteste Theologin, Margot Käßmann, mitunterschrieben hat, wird sie vom ukrainischen Vize-Außenminister Melnyk als „Pastorin der Schande“ beschimpft. Das Manifest sei eine „Komplizenschaft mit dem Aggressor“, erbost sich der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.

Es ist eine erstaunliche Wut, oft unterfüttert durch bellizistische Ansichten, mit der die Schützengraben-Kommentatoren das Manifest zerschießen. Als ginge es hier um Staatsräson, als wäre bereits der Aufruf zum Frieden ein Verbrechen. Nur leider gehört das Wagenknecht-Schwarzer-Papier tatsächlich in die Tonne – es ist intellektuell und friedenspolitisch extrem unterkomplex. Zudem benennt es weder die Täter noch stimmen die angeführten Fakten. Was immer die beiden Frauen treibt, die Liebe zum Frieden sicher nicht. Die Haltung, mit der sich Wagenknecht/Schwarzer ein pazifistisches Mäntelchen umhängen – nur Camouflage. Sie schaden der Sache, der sie vorgeben zu dienen.

Einen hellsichtigen Einspruch gegen das Manifest formuliert die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr: „Ein politisch kluger Pazifismus unterscheidet sich von einem einfachen Gesinnungspazifismus“, schreibt sie in der FR. „Er orientiert sich nicht nur an dem Leitwert, das Töten schnellstmöglich zu beenden. Er wägt auch unterschiedliche Wege zu diesem Ziel umsichtig ab, bleibt selbstkritisch und handelt zum rechten Zeitpunkt.“ Nichts von dieser Klugheit findet sich bei Wagenknecht/Schwarzer.

Ganz anders dagegen das „Plädoyer“ des Philosophen Jürgen Habermas. Er fordert ein „öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen“ und kritisiert die materielle und diskursive Militarisierung der Gesellschaft. „So scheint der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen“, schreibt Habermas in der „Süddeutschen Zeitung“, „angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.“ Sein Appell: Der Westen muss sein Engagement vom Ende her denken, da er eine Mitverantwortung für den Verlauf des Krieges trägt.

So sehr sich Habermas’ Plädoyer in Inhalt und Substanz vom Wagenknecht-Schwarzer-Manifest unterscheidet, so wenig kümmert das einschlägige Kommentator:innen, für die jeder Friedensgedanke nichts als Gedöns ist. Wer Verhandlungen fordert, ist ein „Lumpenpazifist“ (Sascha Lobo), wer Weltkriegsangst eingesteht, macht sich zum Büttel von Putins Propaganda. Als „Abwehrzauber“ bezeichnet der „Spiegel“ das Habermas’sche Plädoyer, als bewege sich der Philosoph gedanklich im Harry-Potter-Land.

Ukraine-Krieg: Friedenspolitische Alternativen erfüllen eine wichtige Kritikfunktion

Selbst die „Süddeutsche Zeitung“ hat offenbar Sorge, in den pazifistischen Senkel gestellt zu werden. Wohl aus diesem Grund entscheidet sich das Blatt für ein publizistisch ungewöhnliches Vorgehen: Die Redaktion ergänzt Habermas’ Plädoyer durch einen beigestellten Text. In dem wird erklärt, was der Philosoph eigentlich denkt und meint – als wäre die Leserschaft nicht in der Lage, das selbst zu kapieren. Explizit versichert der Beistelltext, dass Habermas sich ja keineswegs „gegen Waffenlieferungen an die Ukraine“ ausspreche. Was ist das anderes als vorauseilende Angst vor dem, was Habermas selbst den „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“ nennt?

Geht es um die diskursive Militarisierung, sticht auch Ursula Schröder hervor, Direktorin des Instituts für Friedensforschung in Hamburg. Seit Monaten tut sich die Wissenschaftlerin als beinharte Verfechterin einer militärisch dominierten Sicherheitspolitik hervor. Ängste vor einem Atomkrieg bezeichnet Schröder gern als „diffuses Gefühl“. Die öffentlichen Aufrufe für Verhandlungen diskreditiert sie im Deutschlandfunk als „vulgär-pazifistische Positionen“. Sollte sie etwa auch Habermas damit meinen? Man muss sich von der Stimmungslage der Nation schon sehr getragen fühlen, um sich eine derartige intellektuelle Frechheit anzumaßen.

Wie soll sich Deutschland im weiteren Verlauf des Krieges verhalten? Mehr Waffen? Friedensverhandlungen um jeden Preis? Das Land ist deutlich gespalten. Gleichzeitig aber wird die Debatte von der Fraktion dominiert, die militarisiertes Denken legitimiert und versucht, eine Mehrheit für gewaltförmige Politiken zu gewinnen. Es ist auch diese Schieflage im Diskurs, die selbst schlechten Manifesten Hunderttausende Unterschriften beschert.

Das Zivile als Alternative zum Militärischen erfüllt eine bedeutsame Kritikfunktion. Friedenspolitische Stimmen schaffen die dafür nötige Unruhe. Sie nicht zu hören, fördert das massive Unbehagen, das die Hälfte der Bevölkerung umtreibt. Wenn Sicherheits-, Verteidigungs- und Rüstungsfragen eine Vorrangstellung eingeräumt wird, setzt ein Prozess der Militarisierung ein, der für diplomatische Lösungen von Konflikten und die Verhinderung von Gewalt kontraproduktiv ist. Es ist ein Weg in die Sackgasse, an deren Ende nicht weniger, sondern mehr Gewalt, Rüstung und Krieg stehen wird. (Bascha Mika)

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