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Ukraine-Krieg: Dient nukleare Abschreckung der Sicherheit?

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Am Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz lagern US-Atomwaffen. Sie könnten zum Angriffsziel werden.
Am Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz lagern US-Atomwaffen. Sie könnten zum Angriffsziel werden. © Thomas Frey/dpa

Atomwaffen haben in Vietnam, Afghanistan, Irak nicht zum Ende der Gewalt beigetragen, argumentiert IPPNW-Vorsitzende Angelika Claußen mit Blick auf die Ukraine.

Kiew/Moskau – Bis 1994 waren sowjetische Atomwaffen in der Ukraine stationiert – heute wird argumentiert, Russland hätte die Ukraine nicht angegriffen, wären diese noch immer im Land. Schaut man sich die Fakten an, wird schnell klar: Diese Argumentation kann schon alleine deshalb nicht stimmen, weil die Ukraine zu keinem Zeitpunkt Zugang zu den sowjetischen Atomwaffen hatte. Sie waren lediglich auf ukrainischem Territorium stationiert. Trotzdem stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt die nukleare Abschreckung?

Der Besitz der Atomwaffen würde Kriege zwischen den Großmächten verhindern, heißt es oft. Atomwaffen würden „strategische Stabilität“ bewahren und sogar „Sicherheit schaffen“. Einen Beweis dafür, dass das Prinzip der nuklearen Abschreckung funktioniert, gibt es nicht – lediglich die bloße Korrelation der Existenz von Atomwaffen und der Tatsache, dass ein Dritter Weltkrieg (noch) nicht stattgefunden hat. Beispiele für Angriffe und Kriege gegen Atommächte hingegen gibt es zur Genüge.

Ukraine-Krieg: Atomwaffen machen den Krieg explosiv

So entsandte China 1950 während des Koreakriegs 200 000 Soldaten gegen die Truppen Südkoreas und der Atommacht USA. Argentinien marschierte 1982 auf den britisch kontrollierten Falkland-Inseln ein und der Irak feuerte nach der US-amerikanischen Invasion von 1991 auf die Atommacht Israel. Indien und Pakistan greifen einander in Kaschmir an, obwohl sie beide Atomwaffen besitzen.

Die Atommächte, allen voran Russland und die USA, haben seit Beginn des Atomzeitalters zahlreiche Stellvertreterkriege geführt. Rückblickend sehen wir, dass Atomwaffen weder in Vietnam noch in Afghanistan oder im Irak zu einem Ende der Gewalt beigetragen haben. Im Gegenteil. Das erleben wir jetzt beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Die vermeintliche eigene Unverwundbarkeit begünstigt ungezügelte Grausamkeiten.

Anstatt Sicherheit zu schaffen, macht der Besitz von Atomwaffen diesen Krieg über alle Maßen explosiv. Es ist naiv, zu erwarten, dass der Einsatz von Atomwaffen verhindert wird, solange weiterhin an der Theorie der nuklearen Abschreckung festgehalten wird. Denn die Gefahr von menschlichen oder technischen Fehlern ist extrem hoch. Sollte es zu einem Erstschlag kommen, können Automatismen und eine Eskalation zu einem globalen Atomkrieg führen.

Ukraine-Krieg löst Bewaffnungsreflex aus

Ausgelöst durch das unberechenbare Verhalten Russlands erleben wir derzeit einen Bewaffnungsreflex aller direkt und mittelbar beteiligten Staaten. Ein Denk- und Handlungsmuster der Kriegslogik: der Mythos der „erlösenden Gewalt“. In der Friedenswissenschaft ist der Mythos der „erlösenden Gewalt“ der erste Schritt zur absoluten Eskalation. In einem Krieg, an dem vier Atomwaffenstaaten beteiligt sind, würde das das Ende unserer Welt, wie wir sie kennen, bedeuten.

Zur Autorin

Angelika Claußen ist Ärztin und Vorsitzende der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).

Deshalb muss ein Weg gefunden werden, beidseitig gesichtswahrend zu einem Waffenstillstand zu gelangen. Dazu müssen alle diplomatischen Möglichkeiten im Rahmen der OSZE ausgeschöpft und muss auf vielfältige, gleichzeitig anwendbare Lösungsansätze gesetzt werden. Im Ukraine-Krieg könnte der Einsatz von Mediator:innen, wie dem UN-Generalsekretär oder der Generalsekretärin der OSZE, Helga Maria Schmid, Russland und die USA im ersten Schritt dazu bewegen, die Atomwaffen aus der erhöhten Alarmbereitschaft zu nehmen. Vertrauensbildende Maßnahmen wie ein rechtlich bindender Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen durch die Nato und Russland könnten folgen.

#Friedensfragen

In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen.

Ein neues nukleares Wettrüsten in Europa hat längst begonnen. Auch Deutschland plant die erste nukleare Aufrüstung seit dem Nato-Doppelbeschluss 1979. So sollen die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen ab 2023 durch neue, aufgerüstete ersetzt und neue Kampfjets für deren Einsatz angeschafft werden. Putin hatte bereits 2015 angekündigt, dass er auf diese Aufrüstung mit Gegenmaßnahmen reagieren würde.

Wie könnte Deutschland im Ukraine-Krieg deeskalieren?

Hier könnte Deutschland seinen Teil zur Deeskalation des Konflikts beitragen. Ein Verzicht auf die atomare Aufrüstung und der Abzug der US-Atomwaffen aus Rheinland-Pfalz würden Deutschland sogar sicherer machen. Denn die Atomwaffen in Büchel eignen sich nicht zur Abschreckung. Da ihr Standort bekannt ist, wären sie im Gegenteil im Kriegsfall eines der ersten Angriffsziele und stünden nicht für einen Vergeltungsschlag zur Verfügung.

Ihr Abzug hingegen würde den Weg freimachen für den deutschen Beitritt zum UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Auf lange Sicht beschreibt der Atomwaffenverbotsvertrag die einzige Antwort auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung und die einzige Garantie für echte gemeinsame Sicherheit. (Angelika Claußen)

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