1. Startseite
  2. Politik

Militärexperte zum Widerstand der Ukraine: „Harte Arbeit und enorme Willensstärke“

Erstellt:

Von: Jan Dirk Herbermann

Kommentare

US-Militärexperte Michael Repass über die Kampfkraft der Ukrainer, Russlands strategische Fehler und zur Frage, ob Wladimir Putin Atomwaffen einsetzen könnte.

Herr Generalmajor, wann waren Sie das letzte Mal beim ukrainischen Militär?

Ende Januar 2022 hatte ich mein letztes Engagement, 2021 war ich Berater des Generalstabs in Kiew. Im vergangenen Jahr, im September, besuchte ich auch das Trainingsgelände westlich von Lwiw, das die Russen jetzt beschossen haben.

Die ukrainische Armee leistet den Russen sehr starken Widerstand. Wie lange halten die Ukrainer noch durch?

Ich bin nicht überrascht über die Leistung der ukrainischen Streitkräfte. Sie gewinnen jeden Tag relativ an Stärke gegenüber den Russen. Sie gingen zwar in den Krieg mit einer unterlegenen Armee, aber das Kräfteverhältnis gleicht sich immer mehr an. Sie kämpfen von einer moralisch überlegenen Position, da sie ihr Heimatland gegen eine brutale Aggression verteidigen. Die ukrainische Armee und das ukrainische Volk werden den Kampf fortsetzen, solange sie die Mittel haben. Ich sehe nicht, dass sie kurzfristig kapitulieren, besonders jetzt, da Russlands Offensive ins Stocken geraten ist. Die Dynamik könnte sich zugunsten der Ukraine bewegen.

Ukraine-Krieg: Die Militärs der Ukraine haben harte Arbeit geleistet

Hat die Ukraine also eine Chance, militärisch zu bestehen?

Ja. Aber es ist unmöglich, den Ausgang des Ukraine-Konflikts genau vorauszusagen.

Wie lautet das Erfolgsgeheimnis der ukrainischen Streitkräfte?

Die Militärs der Ukraine haben harte Arbeit geleistet und sie zeichnen sich durch enorme Willensstärke aus. Sie wussten, dass Putins Soldaten kommen würden. Sie waren also nicht überrumpelt. Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt seit seinem Amtsantritt 2019 auf tiefe Reformen der Streitkräfte, er tauschte die Führung aus. Jetzt sind jüngere Generäle am Ruder, die seit 2014 gegen die Russen und die prorussischen Rebellen im Donbass gekämpft haben. Selenskyj ernannte auch einen neuen Verteidigungsminister, Oleksyj Resnikow, ein hervorragender Mann. Hinzu kommen moderne Ausbildung und Ausrüstung. Die aktuelle Armee der Ukraine gleicht den Streitkräften der Nato-Länder und hebt sich deutlich von der alten ukrainischen Truppe ab, die 2014 die Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim durch die Russen nicht verhindern konnte.

Eine „russische Vernichtungsorgie“ sieht der frühere US-Generalmajor Michael Repass auf die Ukraine zukommen.
Eine „russische Vernichtungsorgie“ sieht der frühere US-Generalmajor Michael Repass auf die Ukraine zukommen. © Alex Chan Tsz Yuk/dpa

Wie wichtig sind die Waffenlieferungen aus Deutschland und den anderen Nato-Staaten für die Verteidigung der Ukraine?

Enorm wichtig. Die Frontkommandeure und ihre Einheiten brauchen dringend Panzer- und Flugabwehrsysteme. Mit der deutschen Panzerfaust 3, der Anti-Panzerrakete Javelin sowie den Flugabwehrraketen Stinger oder SA-7 können die Ukrainer den Russen empfindliche Verluste zufügen. Natürlich gestaltet sich der Waffentransport sehr gefährlich, weil die Russen die Lieferungen ins Visier nehmen.

Wieso kommen Putins Truppen so langsam voran?

Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und letztlich Putin selbst haben ihrer sogenannten speziellen Militäroperation bestimmte Annahmen zugrunde gelegt, die vor Beginn der Feindseligkeiten nicht verifiziert waren. Zwei Beispiele. Erstens ging Russland davon aus, dass die Ukrainer keinen ernstzunehmenden Widerstand leisten. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Zweitens vertrauten die Russen darauf, dass sie mit einer großen motorisierten Streitmacht mühelos in der Ukraine operieren können. Eine böse Überraschung für die Kreml-Truppen war dann das matschige Gelände im Norden der Ukraine. Kommt ein Fahrzeug dort von der Straße ab, bleibt es leicht stecken. Erinnern wir uns an den 40 Meilen langen russischen Militärkonvoi auf dem Weg nach Kiew. Es gab Pannen, Schäden und Spritmangel bei Fahrzeugen. Die intakten Vehikel kamen aber auch nicht mehr vorwärts, sie konnten nicht von der Straße abweichen. Wegen des Matsches.

Zur Person

Michael Repass, Ex-Kommandeur des US-Spezialkräfte-Kommandos Europa, hat nach seiner Pensionierung vom US-Militär im Auftrag Washingtons die Streitkräfte der Ukraine beraten. Er ist Absolvent der Militärakademie West Point und befehligte Spezialeinheiten im Irak und in Afghanistan. FR

Haben also die russischen Nachrichtendienste versagt?

Ja, die russischen Nachrichtendienste waren nicht fähig, entscheidende Informationen zu sammeln. Es kann aber auch sein, dass die Dienste bewusst ein rosigeres Bild für Putin gezeichnet haben. Wladimir Putin erhält gefilterte Informationen, die ihm genehm sind.

Ukraine-Krieg: Luft- und Bodenoffensive knirscht bei den Russen

Welche strategischen Fehler haben die Russen gemacht?

Sie haben es zunächst versäumt, die Kommandozentrale und die Kommunikationskanäle der ukrainischen Armee auszuschalten. Das Zusammenspiel von Luft- und Bodenoffensive knirscht bei den Russen. Die Militärkampagne insgesamt ist zu komplex und zu verstreut. Sie haben nicht genügend Kampfkraft und Logistik für die Operation eingesetzt. Die US-Streitkräfte und ihre Koalitionspartner hingegen starteten im Golfkrieg 1991 gegen den Irak mit einer gewaltigen Luftoffensive, um die militärische Infrastruktur auszuschalten. Erst danach begann der Einmarsch in das irakisch besetzte Kuwait.

Michael Repass, Ex-Kommandeur des US-Spezialkräfte-Kommandos Europa. Foto: Copyright Able.
Michael Repass, Ex-Kommandeur des US-Spezialkräfte-Kommandos Europa. © Greenleaf Photo Studio ~ Karen Maugans ~ Professional Portrait Photographer

Ukraine-Krieg: „Es wird noch schlimmer“

Welche militärische Strategie verfolgen die Russen?

Die Russen haben eine enorm destruktive Kampagne entfesselt. Sie zerstören Städte, Infrastruktur, Energie- und Wasserversorgung, Abwassersysteme. Sie töten oder vertreiben die Zivilisten. Wenn die Städte unbewohnbar sind, bekämpfen die Russen das feindliche Militär. Wir sehen das jetzt in Mariupol. Die Russen wollen, dass kein ukrainischer Widerstand im östlichen Teil der Ukraine bleibt. So machten sie es schon im Syrien-Krieg in Aleppo und Homs sowie im Tschetschenien-Krieg in Grosny.

Wie viel schlimmer kommt es noch?

Ich befürchte, es wird noch schlimmer. Wenn die Russen ihre Vernichtungsorgie fortsetzen, könnten nach Schätzungen des Hilfswerks UNHCR 18 Millionen Menschen in die Flucht gezwungen werden. Oder mehr. Das wäre eine beispiellose humanitäre Katastrophe.

Wird Putin zum Äußersten gehen und Atomwaffen im Krieg gegen die Ukraine einsetzen?

Ich sehe keine Umstände, die ihn dazu bewegen würden, mit Atomwaffen zu operieren. (Interview: Jan Dirk Herberman)

Auch interessant

Kommentare