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Ukraine-Krieg: „Unsere politische Kultur ist angstanfällig“

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Von: Martin Benninghoff

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Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen, die Krisenkompetenz der Regierung und das Schweigen des Kanzlers.

Herr Professor Korte, wenn Sie das erste Jahr im Ukraine-Krieg aus deutscher Sicht Revue passieren lassen: Hat sich die Ampel-Regierung als Krisenmanagerin bewährt?

Ich sehe die Ampel-Koalition als Krisenlotse, sie hat die Rolle nach 81 Tagen an der Regierung angenommen. Dieser Krieg hat die Agenda der selbst ernannten „Fortschrittskoalition“ völlig verändert. Gemessen an den Umfragedaten zu Fragen von Wehrhaftigkeit und von Sicherheitspolitik und Krieg sehe ich großes Vertrauen in das Krisenmanagement der Bundesregierung.

Gilt das auch für den Kanzler? Olaf Scholz betont immer, wie sehr er die Dinge im Griff habe. Die Details erklärt er aber nur äußerst sparsam.

Scholz ist ein Vertreter der Empörungsverweigerung. Er ist auch ein Dissident von Diskursen. Sein Stil ist ungewohnt für uns, weil oft mit aggressivem Schweigen kombiniert. Wir sind in Deutschland erklärungsarme Kanzler gewohnt, aber nicht in dieser Konsequenz.

Da gab es noch Hoffnung: Außenministerin Baerbock (mit dunkler Weste) besucht im Februar 2022 ein Dorf in der Oblast Donezk, wenige Tage vor der Invasion.
Da gab es noch Hoffnung: Außenministerin Baerbock (mit dunkler Weste) besucht im Februar 2022 ein Dorf in der Oblast Donezk, wenige Tage vor der Invasion. © afp

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

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Trotzdem scheinen das viele zu akzeptieren. Das Murren ist vor allem im Journalismus groß. Wie kann das sein?

Unsichere Wählerinnen und Wähler wählen keine unsicheren Politiker. Er strahlt sehr viel Sicherheit aus, indem er nur sehr zurückhaltend etwas zu Kriegsszenarien sagt. Dadurch vergaloppiert er sich nicht – und bedenkt durch diesen Stil auch, dass wir eine Zurückhaltungskultur aufgeben mussten. Als Pazifismus-Weltmeister ist die Wende außergewöhnlich, die viele im Land durchmachen. Insofern ist die Art der Behutsamkeit und Dosierung sehr populär, weil sie sich von irgendwelcher hurra-patriotischen Tonalität abgrenzt.

Aber ist sein Politikstil noch zeitgemäß, zumal ja auch in der Politik fast schon wie ein Mantra von Partizipation und Transparenz die Rede ist?

Politik ist immer begründungspflichtig. Das, was Scholz mit uns macht, ist zweifellos sehr anstrengend, weil er keine Erklärung anbietet, keine sinnstiftende Geschichte für sein Handeln. Aber man darf nicht vergessen: Gegenüber den Bürgern tritt die Politik mit vielen sichtbaren Protagonisten auf, die anders kommunizieren. Mit dem Zweitkanzler Robert Habeck, der nicht nur Vizekanzler ist, mit Finanzminister Christian Lindner und Außenministerin Annalena Baerbock zusammen. Alle vier artikulieren verschiedene Antworten gegenüber den Bürgern.

Sie meinen, die Rollenverteilung geht auf? Baerbock vertritt eine Werte-Außenpolitik gegenüber Diktaturen und Autokratien, während Habeck nach Katar fährt, um Energie zu besorgen.

Ja, das ist eine Aufgabenverteilung, die sogar innerhalb der Grünen gut funktioniert. Das ist eine feministische Außenpolitik, die im Koalitionsvertrag steht, und eine extrem wertegetriebene und nicht in erster Linie durch Diplomatie bestimmte Außenpolitik. Das ist neu, sie wirkt lauter, pointierter als beim Vorgänger. Andere Regierungsvertreter, darunter Vizekanzler Habeck, sind vergleichsweise eher interessengeleitet unterwegs. Da kann es zu klassischen Spannungsverhältnissen kommen.

Karl-Rudolf Korte zum Ukraine-Krieg: „Die Krisen stabilisieren eine Regierung“

Apropos Spannungsverhältnisse: In der Waffendebatte ist die SPD unter Druck, um nicht zu sagen: gespalten. Wird das noch zur Zerreißprobe in diesem Jahr?

Die Krisen stabilisieren eine Regierung, das betrifft die Frage, wie die Ukraine unterstützt wird, aber auch, wie für Energiesicherheit gesorgt wird. Ich sehe da bei allen Parteien paradoxe Politik, eine Umkehrung zu dem, was in den Wahlprogrammen steht. Die FDP muss immer mehr Schulden verantworten und anders verbuchen, damit es nicht mit der Schuldenbremse kollidiert. Die Grünen suchen verzweifelt nach den letzten fossilen Resten, die es in Europa und der Welt gibt.

Und die SPD?

Die SPD mit einer großen Pazifismus-Tradition liefert Kriegswaffen. Das ist für alle Partner eine Umkehrung dessen, was sie machen wollten. Die Spannungen in der SPD werden derzeit aber durch die Regierungsperformance überlagert, sonst würden sie aufbrechen. Regieren diszipliniert die inneren Verwerfungen innerhalb der Bundestagsfraktion und zwischen dem Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich und dem Parteivorsitzenden Lars Klingbeil, der vielmehr auf Leadership und eine Art Godesberg-Wende bei Militärfragen seiner Partei setzt als der Fraktionsvorsitzende.

Der These nach wäre es ein historisches Gelegenheitsfenster, dass ausgerechnet linksliberale Parteien an der Macht sind, die eine Kehrtwende im Militärischen durchsetzen. So wie es ein Momentum war, dass die Union die Wehrpflicht abschafft und die Schröder-SPD die soziale Unterstützung kürzt?

Ja, „Nixon goes to China“ – das ist das paradoxe Momentum. Umso wichtiger ist, dass man diese Kehrtwenden erklärt, um uns alle im Spiel zu halten. Man sieht bei den Umfragedaten, dass das Pragmatische funktioniert und nicht das Ideologische. Die FDP hängt allerdings noch an einigem Traditionellen fest, in der Verkehrspolitik zum Beispiel, und produziert deshalb auch schlechte Umfragewerte. Das an die Zeitenwende neu Angepasste goutieren die Wähler.

Bei der Waffendebatte sind die Grünen relativ einstimmig, da wundert man sich. Wo sind all die Friedensbewegten hin? Ist das eine Generationenfrage?

Ja, das ist eine Generationenfrage. Aber die Friedensbewegung war immer nur ein Teil der Grünen. Da gibt es noch ganz andere Wurzeln, insofern ist die innere Kontroverse bei den Grünen viel stärker bei Themen wie Klima und Umwelt, wie lange man mit fossilen Energien überbrücken muss, bis man wieder voll auf Erneuerbare setzen kann. Das ist viel dramatischer innerparteilich umkämpft als die Fragen von Waffenlieferungen und der Unterstützung der Ukraine.

Karl-Rudolf Korte zum Ukraine-Krieg: „Die Sprache transportiert oft einen Alarmismus, der befremdet“

Hat es Sie überrascht, wie geschmeidig gerade die linksliberalen Parteien auf den militärischen Jargon und die Aufrüstung umgesattelt sind?

Die Sprache transportiert oft einen Alarmismus, der befremdet. Dass Themen der Wehrhaftigkeit so exponiert vorgetragen werden, dass man meint, man müsse jetzt auch die verschiedenen Panzergattungen auswendig lernen, ist ungewöhnlich. Das ist nach wie vor irritierend, aber Symptom eines nachholenden Begreifens. Viele haben gedacht, und ich schließe mich da nicht aus, dass wir Wehrhaftigkeit vor allem nach innen brauchen, aber nicht mehr nach außen.

Wenn wir über Szenarien für die Zukunft nachdenken: Bleibt es bei der Zustimmung für das Krisenmanagement? Oder kann es nicht sein, dass kommende Probleme das politische System an die Belastungsgrenze bringen? Wenn die Ukraine versuchen sollte, die Krim zurückzuerobern. Wenn die Energie doch ausgeht – oder Putin Deutschland sehr konkret mit einem Atomkrieg droht?

Wir können Krise. Die Corona-Pandemie war eine große Generalprobe. Von der Arbeitslosenstatistik bis zur Energiepolitik, es scheint, als habe die Politik sehr adäquat reagiert. Die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger ist offenbar zufriedengestellt worden, und das nicht nur durch „Entlasteritis“, sondern durchaus mit dosierten Zumutungen. Die Gesellschaft hält solidarisch zusammen. Das ist erst einmal eine sehr wichtige Erfahrung, um widerstandsfähig zu bleiben.

Gut, aber mir scheint, dieses Grundvertrauen teilen nicht alle.

Die andere Antwort auf Ihre Frage ist: Die Unberechenbarkeit bleibt das Prinzip der Politik. Es ist eine neue Erfahrung, dass es eine Erwartungssicherheit gegenüber dem Unerwarteten gibt. Das hängt mit komplexer Politik zusammen, die nicht serienmäßig verläuft, sondern disruptiv. Wir können deshalb auch den Modus des Regierens als Modus des Nachbesserns erkennen. Wenn ich ein Gesetz mache, dann muss ich es wahrscheinlich nach einigen Wochen nachbessern, weil ich dann einen neuen Wissensstand habe. Die Widerstandsfähigkeit unseres Systems hängt davon ab, welche Tools wir entwickeln, um Resilienzerfahrungen einzubringen. Wie schalten wir zum Beispiel um zwischen zentralen und dezentralen Ebenen?

In der Corona-Pandemie war das die Ministerpräsident:innenkonferenz, die von vielen als dysfunktional angesehen worden ist.

Genau, die hat sich in der ersten Phase von Corona bewährt, aber danach nicht mehr. Im Falle der Sicherheitspolitik brauchen wir eine Krisenexekutive, die mandatiert von Bundestag und Bundesrat ist.

Eroeffnungsveranstaltung der Bundeskanzler Helmut Kohl Stiftung Aktuell, 27.09.2022, Berlin, Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler Universitaet Duisburg-Essen, NRW School of Governance bei seiner Rede bei der Eroeffnungsveranstaltung der Bundeskanzler Helmut Kohl Stiftung in der Franzoesischen Friedrichstadtkirche in Berlin-Mitte Berlin Berlin Deutschland *** Opening event of the Federal Chancellor Helmut Kohl Foundation Current, 27 09 2022, Berlin, Prof Dr Karl Rudolf Korte, political scientist University of Duisburg Essen, NRW School of Governance during his speech at the opening event of the Federal Chancellor Helmut Kohl Foundation in the Franzoesische Friedrichstadtkirche in Berlin Mitte Berlin Berlin Germany
Karl-Rudolf Korte. © IMAGO/Political-Moments

Zur Person

Karl-Rudolf Korte (64) ist nach mehreren Vertretungsprofessuren seit 2002 Professor für Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Mit der Gründung im Jahr 2006 wurde er zudem Direktor der NRW School of Governance. Seit mehr als 20 Jahren begleitet er als Parteienforscher die Wahlsendungen im ZDF.

In Mainz und Tübingen hat Korte Politikwissenschaften, Germanistik und Pädagogik studiert, in München hat er habilitiert. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Karl-Rudolf Korte zum Ukraine-Krieg: „Eskalationen können natürlich kommen“

Das heißt, selbst eine Kriegseskalation über die Ukraine hinaus muss uns nicht erschüttern, weil sich die Krisenpolitik bewährt?

Eskalationen können natürlich kommen. Eine Gesellschaft wie die deutsche, die sehr ängstlich und risikoavers ist, wird sich dann noch staatsfrommer zeigen und sich hinter einer Regierung scharen, die das Problem lösen soll. Ich erkenne keine Aufstände und große Protestzüge, sondern eher im Gegenteil eine Art von Super-Etatismus. Unsere politische Kultur ist angstanfälliger als andere, wir sind ein Wolf-Erwartungs-Land. Das unterscheidet uns von den angelsächsischen Ländern, und es gibt auch viele eingebildete Ängste, die hier sehr ausgeprägt sind. Diesen Hebel kann Putin zwar schnell bedienen, aber das würde eher zu einer stärkeren Umarmung der Bundesregierung führen und weniger zum Straßenprotest.

Könnte eine Partei wie die AfD von solchen Ängsten vor Krise und existenzieller Not profitieren?

Das ist Protest, mit Empörungsfolklore garniert. Aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind die Wahlerfolge der AfD hier eher gering, auch wenn sie vor allem im Osten Wahlen gewinnen könnte. Dort ist die Bevölkerungszahl gering, deshalb sollte man das nicht überbewerten. Eher nimmt die Macht der Mitte zu, während die Ränder marginalisiert werden. Das ist eine deutsche Besonderheit, ein Sonderweg in Europa.

Und die CDU? Mir scheint, die Krisen-Exekutive der Ampel macht den Konservativen die Themen streitig – in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vor allem.

Ja, in Krisen wird kooperative Opposition in Deutschland belohnt, nicht fundamentale. In dieser Zeitenwende mit Eskalationsgefahr wird durchaus positiv gewertet, dass die Union einiges an der Politik der Ampel zur Sicherung der Ukraine unterstützt. Andererseits ist es schwierig für die, ein bürgerliches Alleinstellungsmerkmal als Union zu entwickeln, dass nicht rot, grün oder gelb ist.

Ihre Analyse stimmt positiv, um nicht zu sagen: euphorisch. Sie sind trotz der Krise so guter Dinge, was die politische Kultur in Deutschland angeht?

Nach vielen Jahren der Großen Koalition müssen wir lernen, dass die Politik vielstimmiger ist und dass die Kanzlerdemokratie in dieser Frage nicht mehr so monolithisch funktioniert. Die Macht kann im Kanzleramt sein, muss aber nicht. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass wir einige Vorsitzende von Bundestagsausschüssen kennen, die wir vorher nicht kannten. Das macht Politik lebendiger, aber auch unfertiger und anstrengender. Endlich ist die Diskursallergie der Großen Koalition beendet. So wie wir offenbar gemeinsam Zukunft in Krisen gestalten, spricht das für ein Comeback der Zuversicht für 2023.

Das Interview führte Martin Benninghoff.

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