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Ukraine-Krieg: Ja, wir haben uns geirrt. Und jetzt?

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Von: Stephan Hebel

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Tausende schutzsuchende Menschen fliehen derzeit aus der Ukraine nach Deutschland. Nicht nur um ihnen zu helfen, müssen wir uns nun fragen, was für eine demokratische Zukunft zu tun ist. afp
Tausende schutzsuchende Menschen fliehen derzeit aus der Ukraine nach Deutschland. Nicht nur um ihnen zu helfen, müssen wir uns nun fragen, was für eine demokratische Zukunft zu tun ist. © afp

Es ist angesichts des Ukraine-Krieges nicht leicht, noch Fragen zu stellen. Aber sie müssen sein. Sonst haben wir die Vision von Frieden und Sicherheit schon aufgegeben.

In diesen Tagen muss der Liste historischer Kriegsverbrechen, die sich ins kollektive historische Gedächtnis einschreiben, ein weiterer Name hinzugefügt werden: Butscha, ein ukrainisches Städtchen bei Kiew, aus dem sich die Truppen von Wladimir Putin in der vergangenen Woche zurückgezogen haben. Sie ließen eine noch unbekannte Zahl offenbar ziviler Opfer zurück, die auf brutale Weise ermordet wurden.

Nicht erst mit Bekanntwerden dieser Schandtat hören wir allenthalben die Stimmen, die bekennen, sich im russischen Diktator geirrt zu haben. Vor allem in der SPD machen sich immer mehr Politikerinnen und Politiker Gedanken über die Frage, wer sich wann für frühere Fehleinschätzungen zu entschuldigen habe.

Verbunden sind diese Eingeständnisse meistens mit sehr grundsätzlichen Schlussfolgerungen, so zum Beispiel – um eines von zahllosen Beispielen herauszugreifen – bei Wolfgang Thierse von der SPD: „An die Stelle der wunderbaren entspannungspolitischen Idee von der ,gemeinsamen Sicherheit‘ wird zunächst – so weh mir das tut – Sicherheit gegen Putin-Russland treten müssen“, so der ehemalige Bundestagspräsident im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Hebel meint: Ja, wir haben uns in Putin geirrt. Das gilt für einen Politiker wie Thierse, der Willy Brandts Entspannungspolitik aus den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts „nach wie vor für eine Erfolgsgeschichte“ hält. Es gilt für alle, die nach dem Fall der Mauer geglaubt haben, es ließe sich trotz Putins autokratischen Regimes eine europäische Friedensordnung mit statt gegen Russland bauen. Die Frage ist nur: Sind das die Einzigen, die sich irrten? Und was folgt daraus?

Ukraine-Krieg: Viele Fragen, keine Gewissheiten

Der öffentliche Meinungstrend scheint ziemlich eindeutig zu sein: Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr, das Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinen engsten Beraterinnen und Beratern erdacht und dem Bundestag als praktisch alternativloses Projekt präsentiert hatte, stieß nicht nur dort auf begeisterte Zustimmung. In einer Umfrage befürworteten 63 Prozent das gigantische Rüstungsprogramm.

Das lässt sich wie folgt interpretieren: Wladimir Putin hat es mit seinem völkerrechtswidrigen und antihumanen Handeln offensichtlich geschafft, Deutschland mit großer Mehrheit hinter einer sehr einfachen Logik zu vereinen. Gegen diesen Verbrecher, so das neue Credo, gilt es sich mit allen Mitteln zu rüsten, „Wehrhaftigkeit“ (Annalena Baerbock) ist das alleinige Gebot der Stunde.

Es ist in dieser Stimmungslage nicht einfach, Fragezeichen zu setzen. Wer es dennoch tut, gerät leicht in den Verdacht, angesichts eines atomar bewaffneten Verbrechers in unangemessener Rechthaberei an einer Art naivem Pazifismus festzuhalten. Das wäre in der Tat leichtsinnig und dumm. Aber ein ebenso fataler Fehler wäre es, die „alten Gewissheiten“ durch neue zu ersetzen, die mindestens ebenso stark auf der Unfähigkeit oder dem Unwillen beruhen, die große Krise in ihrer Komplexität zur Kenntnis zu nehmen.

Ja, Putin ist der Aggressor, die Verantwortung für diesen Krieg liegt bei ihm allein. Und ja, die Ukraine hat ein Selbstverteidigungsrecht wie jeder andere Staat der Welt, deshalb stoßen Waffenlieferungen als akute Nothilfe mit Recht in Deutschland auf breites Verständnis, bis hin zu Gregor Gysi von der Linkspartei. Das ist die eine Ebene, auf der es so viel gar nicht zu diskutieren gibt. Jedenfalls dann, wenn man nicht zu denen gehört, die einen skrupellosen Autokraten wie Putin durch relativierende Vergleiche mit westlichen Völkerrechtsverletzungen entlasten wollen.

Die andere Ebene zeigt sich erst, wenn wir uns der Mühe unterziehen, den Blick zu weiten und die ganze Widersprüchlichkeit der Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen.

Zur Person

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie eine Mail an: stephan.hebel@fr.de Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

Live erleben können Sie den Autor bei „Hebels aktueller Stunde“ am Donnerstag, 7. April, 19 Uhr im Club Voltaire, Frankfurt. Der Raum ist bereits ausgebucht. Die Übertragung ist im Internet zu empfangen unter: www.fr.de/hebelsstunde

Dann darf und muss gefragt werden, wozu die massive Aufrüstung der Bundeswehr (deren Etats ja auch in den vergangenen Jahren gestiegen und nicht gesunken sind) eigentlich dienen soll – dass sie kurzfristig etwas ändert, wird ja niemand behaupten.

Dann darf und muss gefragt werden – zum Glück tun das keineswegs nur die ach so bösen Pazifistinnen und Pazifisten –, wo auch die Nato darin versagt hat, zum Aufbau einer haltbaren Sicherheitsordnung beizutragen: Hat nicht die erst gegebene und dann gleich eingeschränkte Mitgliedschaftszusage an die Ukraine und Georgien ein fatales Signal gesetzt? War die Entscheidung, auch nahe der russischen Grenze mit Nato-Truppen zu operieren, eine kluge Schutzmaßnahme gegen Putins Aggressionspläne oder doch eine Verletzung realer Moskauer Sicherheitsinteressen? Hätte man über eine abgesicherte Neutralität der Ukraine wirklich nicht früher reden können als jetzt?

Wie sorgen wir für eine solidarische Politik in Zeiten des Ukraine-Kriegs?

Es darf und muss gefragt werden: Würde es nicht gerade den Unterschied zwischen „dem Westen“ und einem aggressiven antidemokratischen Regime ausmachen, wenn wir jetzt festhielten an der Vision vom „gemeinsamen Haus Europa“? Nicht um Putin in der aktuellen Lage Angebote zu machen, die er als Belohnung empfinden müsste, – sondern um uns besser Rechenschaft darüber abzulegen, was wir gegen ihn verteidigen: die Idee vom friedlichen Zusammenleben in Freiheit, die sich ja wohl nie und nimmer erübrigen kann, so weit ihre Realisierung auch entfernt scheinen mag.

Schließlich kann und muss gefragt werden: Was müssen wir zu Hause tun, um ein attraktives Modell für eine demokratische Zukunft zu sein? Können wir zeigen, dass sich der Klimawandel bekämpfen und zugleich der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft stärken lässt, statt die Lasten den ohnehin Belasteten aufzubürden? Da wäre zum Beispiel an dem Entlastungspaket, das die Ampelkoalition plant, noch einiges zu tun für die Menschen, die sich hohe Energiepreise nicht mehr leisten können.

Ja, es ist schwer, all diese Fragen zu stellen. Es scheint, als hätten wir alle genug damit zu tun, die von dieser Aggression ausgelösten Bedrohungsgefühle zu ertragen und Solidarität zu zeigen mit den Opfern des Überfalls. Aber wenn wir den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Zukunft nicht verlieren wollen, wird es am Ende guttun, sich der Komplexität des Geschehens zu stellen. Das hat nämlich einen Vorteil: Es birgt die Chance, auf bessere Ideen zu kommen, die letztlich zum Handeln ermutigen.

Was sagen die FR-Leserinnen und Leser?

An dieser Stelle sollen auch die Leserinnen und Leser zu Wort kommen und Antworten erhalten, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Diesmal zu einem Thema, das wiederum viel mit dem Ertragen von Komplexität zu tun hat: die Linke, die Gerechtigkeit und die Freiheit. Und weil es ja auch um den Autor geht, sei hier die Ich-Form erlaubt.

Kurz vor der Wahl im Saarland habe ich in der FR einen Text zum Abschied von Oskar Lafontaine aus der aktiven Politik veröffentlicht. Mein zentraler Kritikpunkt: Lafontaine hat den Kampf für soziale Gerechtigkeit in seiner langen Karriere als SPD- und Linkenpolitiker immer wieder gegen Freiheitsrechte ausgespielt, vor allem gegen eine offene Einwanderungspolitik, die er als Werkzeug des Kapitals zur Senkung von Löhnen durch Konkurrenz am Arbeitsmarkt diskreditiert.

Matthias Wooge aus Neu-Isenburg schreibt in seinem Leserbrief: „Was ist nur in Sie gefahren, dass Sie zu seinem politischen Abschied so über einen der letzten authentisch gebliebenen Linken herfallen müssen?“ Und: „Früher empörten Sie sich wie Stéphane Hessel gegen die Diktatur des Finanzkapitalismus oder berichteten von Christoph Butterwegge, der über die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft schreibt, und heute nehmen Sie sich verbittert (von was auch immer?) den Überbringer dieser Botschaften, Oskar Lafontaine, zur Brust. Was soll man nur davon halten?“

Hebel meint: Ich habe in meinem Text über Lafontaine immer wieder versucht, deutlich zu machen, dass es gerade nicht darum geht, sozusagen eine spiegelbildliche Position einzunehmen und die soziale Frage zugunsten von Freiheits- und Minderheitenrechten auszublenden. Das zu vermitteln, ist mir, zumindest bei Ihnen, offenbar nicht gelungen, obwohl ich es mehrmals ausdrücklich betont habe. Auch weiter, da können Sie sicher sein, werde ich die soziale Frage aufgreifen, unter anderem im Sinne von Christoph Butterwegge.

Wenn sich die Linke an etwas „zerfleischt“, wie Sie es in Ihrem Brief auch nennen, dann doch gerade am Unwillen oder der Unfähigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit in einem zu denken. Das ist etwas schwieriger, als beides gegeneinander auszuspielen, aber es ist der einzige Weg, denn Emanzipation ist unteilbar. Ich bleibe dabei: Wenn jemand zur Spaltung der Linken beiträgt, dann diejenigen, die sich diesem umfassend emanzipatorischen Ansatz verweigern.

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