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Druck auf die EU – Erdogan nutzt Ukraine-Krieg für eigene Ziele

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Von: Frank Nordhausen

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Wolodymyr Selenskyj und Recep Tayyip Erdogan während einer Begrüßungszeremonie vor dem Mariinski-Palast im Februar 2022. (Archivbild)
Wolodymyr Selenskyj und Recep Tayyip Erdogan während einer Begrüßungszeremonie vor dem Mariinski-Palast im Februar 2022. (Archivbild) © picture alliance/dpa/Ukrinform | –

Als Vermittler im Ukraine-Krieg wittert Erdogan seine Chance: Die Rolle könnte dem türkischen Präsidenten die Macht sichern – eine Analyse.

Ankara - Wer hätte das gedacht? Die Türkei, vor kurzem noch kritisiert wegen massiver Menschenrechtsverletzungen, der Errichtung einer Autokratie und militärischer Aggressionen gegen ihre Nachbarn – sie steigt plötzlich zur gefragten Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine auf.

Für den türkischen Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdogan ist der Krieg in Osteuropa ein unverhofftes politisches Lebenselixier. Es muss diesem politischen Chamäleon ähnlich vorkommen wie der Putschversuch 2016, der ihm half, seine Herrschaft zu sichern und den er deshalb noch während der Kämpfe ein „Geschenk Gottes“ nannte. Allerdings wird er mittelfristig seinen Balanceakt zwischen Russland und Nato aufgeben und sich für eine Seite entscheiden müssen.

Bereits jetzt ist erkennbar, dass der Westen angesichts der russischen Bedrohung wieder auf Erdogan zugehen und ihn stützen wird, um die Südostflanke der Nato in Europa abzusichern, denn derzeit wird jeder Verbündete gegen Russland gebraucht. Deshalb bemühen sich die Nato-Partner offensiv um den ungeliebten Autokraten in Ankara. US-Präsident Joe Biden hat stundenlang mit Erdogan telefoniert, Bundeskanzler Olaf Scholz machte ihm seine Aufwartung.

Vermittler im Ukraine-Konflikt: Bombenangriffe Ankaras auf kurdische Dörfer kein Thema mehr

Einhellig begrüßten Washington, Brüssel, Berlin und Paris die von der Türkei vermittelten Verhandlungen zwischen den ukrainischen und russischen Außenministern im Küstenort Antalya. Die Menschenrechtsfrage wird gerade noch pflichtgemäß gestreift, die Bombenangriffe Ankaras auf kurdische Dörfer und Städte in Syrien und im Irak sind kein Thema mehr.

Das westliche Kalkül ist angesichts der neuen Bedrohungslage rational und knüpft an die Strategien im Kalten Krieg an, als die Türkei ein unverzichtbarer Nato-Frontstaat zur Sowjetunion war und selbst nach ihrer Invasion Nordzyperns 1974 nur halbherzig sanktioniert wurde. Wie damals gilt, dass Ankara nicht nur die zweitgrößte Armee des Bündnisses unterhält, sondern mit den Dardanellen und dem Bosporus auch den strategisch wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliert.

Türkei im Ukraine-Krieg: Torwächter-Rolle für die EU in Schwarzmeerregion

Jetzt wird die Türkei nach der drohenden Eroberung fast der gesamten ukrainischen Küste durch Russland wieder zum wichtigsten Gegenspieler in der Schwarzmeerregion. Diese Funktion wertet Erdogan noch mehr auf, als es seine Torwächter-Rolle für die EU gegenüber dem Chaos und den Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen Osten bereits tat. Da die USA sich aus dem Irak und aus Syrien weitgehend zurückgezogen haben, erfährt zugleich die mit US-Atomwaffen bestückte Nato-Basis im türkischen Incirlik einen Bedeutungszuwachs.

Erdogan (M.) und Selenskyj 2019 in Ankara. Als alles noch einfacher schien.
Erdogan (M.) und Selenskyj 2019 in Ankara. Als alles noch einfacher schien. © AFP

Erdogan hält mit der geostrategischen Schlüsselposition ein herausragendes Blatt in der Hand – im Poker um die außenpolitische Stellung der Türkei und um seine eigene, durch eine Wirtschaftskrise gefährdete Macht. Wie bewusst er sich dieser Rolle ist, zeigen seine Versuche, sich als Vermittler im Ukraine-Krieg zu gerieren und den größtmöglichen Profit aus der Situation zwischen Moskau, Kiew und Washington bzw. Brüssel zu schlagen.

Erdogan will Macht ausbauen: Im Ukraine-Konflikt handelt der türkische Präsident mit beiden Seiten

Erdogan verkauft Drohnen an die Ukraine und bezieht Waffen aus Russland, er fordert Discount auf Rüstungshilfe aus Washington. Er schließt die Meerengen für Kriegsschiffe, aber er verhängt als einziger Nato-Staat bisher keine Sanktionen gegen Russland. Er lässt russische Flugzeuge weiter in den türkischen Luftraum und bietet sich Putin, den er seinen „Freund“ nennt, als Geldwäscher an. Damit verhält sich Erdogan wie gehabt: als ein politischer Abenteurer, der stets bereit ist, extreme Risiken einzugehen, um seine Macht auszubauen und zu sichern.

Doch wandelt der türkische Präsident auf einem schmalen Grat. In der Ukraine hat er gesehen, dass Putin nicht zu trauen ist und dessen neo-imperialistische Politik sich jederzeit auch gegen Ankara richten könnte. Die Türkei ist nicht nur abhängig von russischem Öl, Gas und Weizen, sie lässt sich auch von Ros-atom, Russlands Kernenergie-Staatskonzern, ein Atomkraftwerk am Mittelmeer errichten.

„Kuschelpolitik mit Israel“: Erdogan fürchtet sich vor Putins unberechenbarer Machtpolitik

Erdogan weiß, dass Putin die Türkei gegebenenfalls im Handumdrehen destabilisieren und militärisch auch von Syrien, also von zwei Seiten, in die Zange nehmen kann. Erdogan muss letztlich die Konsequenz aus der Geografie zur Kenntnis nehmen – und Moskau mehr als Washington fürchten. Dass er die Gefahr versteht, zeigt seine überraschende neue Kuschelpolitik mit Israel und Griechenland ebenso wie sein kürzlicher Appell an Brüssel, den EU-Beitrittsprozess wieder anzukurbeln.

Zu erwarten ist, dass der Westen Erdogan in Kürze auch finanziell stützen wird, um den wirtschaftlichen Kollaps des kriselnden Nato-Partners zu verhindern und dem Autokraten den Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu sichern. Denn Unruhen in der Türkei wären in der gegenwärtigen Lage ein Alptraum, vor allem für die EU.

„Geostrategie schlägt Menschenrechte“: Krieg in der Ukraine hilft türkischem Präsidenten

Massive Militärhilfen sind zu erwarten, die ausgesetzten Lieferungen von F-35-Bombern durch die USA könnten ebenso wieder aufgenommen werden wie die Bereitstellung durch Exportverbote blockierter Komponenten für die Drohnenproduktion. Geostrategie schlägt Menschenrechte. So könnte der Ukraine-Krieg Erdogan die Macht sichern.

Derzeit versucht der gewiefte Stratege, sein Wechselspiel so lange wie möglich durchzuhalten. Das hat auch ideologische Gründe. Erdogan verdächtigt die USA, hinter dem Putschversuch von 2016 zu stecken und glaubt, dass Washington aus diesem Grund den mutmaßlichen Drahtzieher, seinen in den USA lebenden Erzfeind Fethullah Gülen, beschützt. Doch Erdogan wird diesen Brocken schlucken müssen, denn die Alternative ist nicht wirklich attraktiv. Nicht nur finanziell. Erdogan dürfte verstanden haben, dass der brutale Machiavellist Putin wohl nicht davor zurückschrecken würde, die Türkei anzugreifen, falls er dies für nötig hält.

Im Abwägen zwischen Ost und West wird sich der Pragmatiker Erdogan letztlich vermutlich für die Nato entscheiden. Aber es kann als sicher gelten, dass er versuchen wird, den größtmöglichen Profit aus dieser Entscheidung zu ziehen – wirtschaftlich, politisch und militärisch. (Frank Nordhausen)

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