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Geheime Verhandlungen zwischen Ruinen: Showdown um Asowstal wird publik

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Von: Marcel Reich

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Das Eisen- und Stahlwerk Asowstal geriet zum Epizentrum im Ukraine-Krieg. Just dort liefen wohl auch Verhandlungen - mitten im Kampf.

Im Ukraine-Krieg war Asowstal für die Ukrainer zu einem Symbol des Widerstands geworden. Etwa 2.600 Soldaten und Zivilisten beherbergte das Eisen- und Stahlwerk in der Stadt Mariupol, während die Anlage wochenlang von russischen Bombardements heimgesucht wurde. Für Russlands Präsident Wladimir Putin markierte das riesige Gelände der letzte hartnäckige Widerstand in der Stadt, die seine Streitkräfte Wochen zuvor eigentlich unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

NameMetallurgisches Kombinat Asowstahl
Gründung2. Februar 1930
OrtMariupol

Ukraine-Krieg: Bericht zeichnet brisante Verhandlungen in Mariupol nach

Nun wird bekannt: Als Putin befahl, die Schlinge um den riesigen Fabrikkomplex enger zu ziehen, war eine kleine Gruppe dabei, geheime Verhandlungen zur Beendigung der Belagerung aufzunehmen. Involviert waren zwei von Putins ranghöchsten Generälen aus Moskau und ein ukrainischer Politiker, der einst als sowjetischer Fallschirmjäger diente. Das berichtet CNN.

Oleksandr Kowalow, ein Mitglied des ukrainischen Parlaments aus der Region Donezk und ein Veteran des sowjetisch-afghanischen Krieges, sagte dem US-amerikanischen Sender, er habe die frühen Phasen der Verhandlungen vermittelt. Zwei hochrangige Generäle des Militärgeheimdienstes GRU aus Russland vertraten die andere Seite: Generalleutnant Wladimir Alexejew, zweiter Kommandeur der GRU, und Generalmajor Alexander Zorin. Beide wurden in der Ukraine geboren.

Alexejew wurde in den vergangenen Jahren mit einer Reihe international beachteter Vorfälle in Verbindung gebracht. Er gehörte zu vier GRU-Beamten, die 2016 vom US-Finanzministerium wegen weitreichender böswilliger Cyberaktivitäten sanktioniert wurden. Die Aktionen hätten darauf abgezielt, die demokratischen Prozesse der USA zu untergraben, unter anderem per Einmischung in Wahlen. Großbritannien und die Europäische Union sanktionierten Alexejew 2019 wegen der Vergiftung des ehemaligen russischen Geheimdienstoffiziers Sergei Skripal in England.

Die zerstörten Anlagen des Stahlwerks Azowstal in der Ukraine. Am 20.05.22 hatten sich die letzten gut 500 ukrainischen Soldaten in Asovstal ergeben.
Ruinen des Stahlwerks Asowstal in der Ukraine. Am 20. Mai 2022 hatten sich dort die letzten gut 500 ukrainischen Soldaten ergeben. © Victor/dpa

Zorin diente als Putins Gesandter in Syrien und spielte eine aktive Rolle bei den Gesprächen zwischen dem Regime von Präsident Baschar al-Assad und den Oppositions- und Rebellenfraktionen des Landes.

Kampf um Azowstal: Epizentrum in der Schlacht um die ukrainische Stadt Mariupol

Nach dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar stürmten russische Streitkräfte innerhalb weniger Tage in die Stadt Mariupol, verbrachten dann aber Monate damit, sie vollständig einzunehmen. Asowstal wurde schnell zum Epizentrum des Kampfes. Das Werk erstreckt sich über vier Quadratmeilen und beschäftigte einst mehr als 10.000 Menschen. Nun liegt es in Trümmern.

Wochenlang beschossen russische Truppen die Anlage Tag und Nacht. Nahrungsmittel- und Wasservorräte der Ukrainer gingen zur Neige. Dann kam laut CNN Kowalow ins Spiel. Kowalow vertritt einen Wahlkreis der Region Donezk im Osten des Landes, wo er sich für die Aufhebung eines Gesetzes starkmachte, das Ukrainisch als Amtssprache festschreibt. Angesichts des andauernden Angriffs auf Mariupol und Asowstal habe er gedacht, dass jemand versuchen müsse, den Wahnsinn zu stoppen, berichtete er nun dem US-Sender.

Kowalow sagte, er habe einen FSB-Kontakt in Moskau – Valentin Kryschanowski – in der Hoffnung genutzt, die brutale Belagerung zu durchbrechen. Kryschanowski, ein ehemaliger Agent des ukrainischen Geheimdienstes SBU, der 2014 nach Russland übergelaufen und dem FSB beigetreten war, wird in der Ukraine weithin als Verräter angesehen.

Die beiden Männer sprachen über die in Asowstal gestrandeten Zivilisten. Viele andere hätten erfolglos versucht, den Zugang zum Stahlwerk Asowstal auszuhandeln, sagte Kowalow CNN. Der Sender konnte diese Darstellung allerdings nicht unabhängig verifizieren.

Er sagte, er habe seine Pläne dem Büro des ukrainischen Militärgeheimdienst-Leiters Kyrylo Budanow mitgeteilt. Dieser erteilte angeblich seinen Segen. Am 25. April unternahm Kowalow seine erste Reise in die von Russland besetzte Südukraine seit Kriegsbeginn. Er sei schockiert gewesen über die Verwüstung. Um das Werk überhaupt erreichen zu können, musste ein Waffenstillstand verhängt werden.

Verhandlungen zwischen Ruinen im Ukraine-Krieg: Erstaunliche Bilder

Am 27. April saßen Kovalov, Kryzhanovsky und Generalleutnant Andrej Sytschewoj von der russischen Armee mitten auf der Straße zusammen, um zu verhandeln. Sytschewoj war für die Führung des Angriffs auf Mariupol verantwortlich und soll Gerüchten zufolge Oberstgeneral Alexander Schurawljow nach den ersten stockenden Phasen des Krieges ersetzt haben. Er wurde von der EU für seine Militäraktionen in der Ukraine sanktioniert.

Um die Gruppe herum tobte weiter der Krieg: „Tatsächlich explodierte alles. Wir haben alles für Asowstal getan, damit es ruhig wird.“ Die Zivilisten hätten Priorität gehabt. Kowalow betonte seine Rolle bei ihrer Freilassung und sagte CNN, er habe dazu beigetragen, „die andere Seite davon zu überzeugen, dass die Rettung von vor allem Kindern, Frauen und Verwundeten ein Akt der Vernunft, ein Akt des Humanismus sein wird“.

Ein Militärfahrzeug steht im Stahlwerk Azovstal. Am 20.05.22 hatten sich die letzten gut 500 ukrainischen Soldaten in Asovstal ergeben. Das Werk war das letzte Stück der strategisch wichtigen Stadt im Südosten der Ukraine, das bis dahin noch nicht komplett unter russischer Kontrolle stand.
Ein Militärfahrzeug steht im Stahlwerk Asowstal. Das Werk war das letzte Stück der strategisch wichtigen Stadt im Südosten der Ukraine. © Victor/dpa

Anfang Mai evakuierten die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz Hunderte von Zivilisten aus Asowstal und anderen Gebieten der Hafenstadt in einer Reihe von Operationen, die UN-Generalsekretär Antonio Guterres als „komplex“ bezeichnete. Am 7. Mai verkündete die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Iryna Wereschtschuk, „alle Frauen, Kinder und älteren Menschen“ seien sicher aus dem Stahlwerk gebracht worden. Aber die Soldaten blieben und die russischen Angriffe gegen das Werk begannen erneut.

Als die Verhandlungen weiter voranschritten, wurde ein dritter Besuch in Mariupol arrangiert, ein Treffen zwischen russischen Generälen, die den blutigen Krieg leiteten, und ukrainischen Offizieren, die Moskau als „Neonazis“ bezeichnete. Am Morgen des 16. Mai nahm Kowalow ein Video auf, als er sich einem der Eingänge zu Asowstal näherte. Auch Zorin und Alexejew sind auf dem Weg zum ramponierten Werk zu sehen.

Ukraine-Krieg in Mariupol: „Das sind die Momente, um die wir uns Sorgen gemacht haben“

In den Videos und Bildern wird die russische Delegation von einer Gruppe von mindestens sechs ukrainischen Soldaten empfangen, darunter Oberstleutnant Denys Prokopenko, Chef des Asow-Bataillons, den Moskau regelmäßig beschuldigt, Teil der extremen Rechten der Ukraine zu sein.

„Das sind die Momente, um die wir uns Sorgen gemacht haben“, sagte Kowalow. „Ein Moment des Vertrauens. Als wir alles getan haben, damit die beiden Seiten zusammenkamen, sich in die Augen sahen, versprach die russische Seite, dass es einen zivilisierten Ausgang für unsere Soldaten geben würde.“ Zu Beginn der ernsthaften Verhandlungen, seien die Bedingungen einfach gewesen: Die ukrainischen Kämpfer würden den Kampf einstellen, das Werk aufgeben und in russische Gewahrsam genommen werden. Die Vereinbarung sei reibungslos umgesetzt worden. Später am Tag wurden die Schwerstverletzten auf Tragen aus dem Werk geholt.

An diesem Abend gab der stellvertretende Verteidigungsminister der Ukraine bekannt, dass die Evakuierung ukrainischer Soldaten aus Asowstal begonnen habe. Hanna Maliar sagte, 53 verletzte Soldaten seien in ein russisches Krankenhaus gebracht worden, und 200 seien in ein Internierungslager in Olenivka in der selbsternannten Volksrepublik Donezk (DVR) verlegt worden.

Am 17. Mai gerieten die Menschen in die Gefangenschaft, viele von ihnen ausgemergelt oder verwundet. Heute befinden sich etwa 2.000 Asowstal-Kämpfer im Gefangenenlager Oleniwka. Kowalow arbeitet nach eigenen Angaben immer noch daran, sie nach Hause zu bringen. (Marcel Reich)

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