Gibt es Risiken, die Putin scheut?

Das russische Regime hat stetig mehr Risiken in Kauf genommen, um seine Ziele zu erreichen, schreibt Konfliktforscher Jonas J. Driedger.
Frankfurt am Main – Als Russlands Präsident Wladimir W. Putin Anfang 2022 die Vollinvasion der Ukraine befahl, nahm er massive Risiken in Kauf, darunter einen langen Erschöpfungskrieg, scharfe Sanktionen und internationale Isolation. Damit stellt sich die dringende Frage, ob die Risikobereitschaft des russischen Regimes grenzenlos ist. Die Forschung des Autors und anderer liefert hier Antworten.
Es gibt tatsächlich Grund zur Sorge: Das russische Regime hat seit Mitte der 2000er stetig mehr Risiken in Kauf genommen, um seine Ziele zu erreichen. So unternahm Russland 2022 keine glaubwürdigen Versuche, westliche Staaten davon zu überzeugen, dass es nur auf eine Aggression der Gegenseite reagiert habe. Das war zum Beispiel 2008 noch anders gewesen. Damals rechtfertigte Russland erfolgreich seinen kurzen und siegreichen Angriffskrieg gegen Georgien. Zuvor hatten georgische Truppen sezessionistische Gebiete auf georgischem Territorium beschossen und dabei auch dort stationierte russische Truppen getroffen.
Die russische Elite knüpft die eigene Glaubwürdigkeit an einen totalen Sieg
Auch riskierte das Regime 2022, dass sich Missgunst in der russischen Bevölkerung ausbreiten könnte. Umfragen ergeben, dass eine Mehrheit der Russ:innen nicht will, dass Angehörige zu gefährlichen Militäroperationen eingezogen werden. Daher hatte das Regime bei der Krimannexion im Jahre 2014 die eigene Rolle vor der eigenen Bevölkerung geheim gehalten und Spezialtruppen eingesetzt. 2022 befahl es fast 200 000 regulären russischen Soldaten offiziell, die Ukraine anzugreifen.

Auch war das Regime im Jahre 2022 deutlich stärker gewillt, das Risiko einzugehen, sich aus dem Konflikt nicht mehr rausziehen zu können. Mit dem offiziellen Ziel, die Ukraine zu „demilitarisieren“ und zu „denazifizieren“, hat die russische Elite die eigene Glaubwürdigkeit an einen totalen Sieg geknüpft.
Das ist eine risikoreichere Politik als im Donbass-Konflikt von 2014 bis 2021, der in Deutschland als „Krieg in der Ukraine“ bezeichnet wurde. Statt weiterer Annexionen leugnete Russland seinen unter Expert:innen unbestrittenen Einfluss auf die sezessionistischen „Volksrepubliken“ in der Ostukraine sowie den Einsatz zehntausender russischer Truppen in der Ukraine. Damit wahrte der Kreml seinen Einfluss auf die Ukraine und hielt sich gleichzeitig eine Rückzugsmöglichkeit aus dem Konflikt offen. Leider ist seit Beginn der Vollinvasion die Risikobereitschaft des Putin-Regimes weiter gestiegen. Beispielsweise isoliert sich Russland zunehmend international durch Angriffe auf zivile Infrastruktur, Kriegsverbrechen und die Nutzung geächteter Waffen.
Autor und Serie
Der Autor: Jonas J. Driedger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung sowie beim Regionalen Forschungszentrum Transformations of Political Violence. Davor arbeitete er in Kiew, Moskau und Washington. Seine Langzeitstudie zur Risikoakzeptanz des Putin-Regimes ist hier frei verfügbar.
Die Serie: Welche Wege führen zum Frieden? Was müssen wir hinterfragen, was angesichts von Waffengewalt nicht opfern? Fachleute geben Antworten in der FR-Serie „Friedensfragen“.
Im Spätsommer 2022 stellte Russland erstmalig Gaslieferungen über Nord Stream 1 komplett ein. Da Russland dieses Gas anderswo nicht so profitabel verkaufen kann, verzichtete es damit auf Profite, aus denen die Pfeiler des Regimes mitfinanziert werden: die korrupte Elite, die Propaganda, Wohlfahrtsmaßnahmen und die Sicherheitskräfte.
Als die ukrainischen Streitkräfte Gebiete zurückeroberten, annektierte Russland das von ihm noch besetzte Gebiet in der Ukraine. Damit beging das Regime einen weiteren eklatanten Völkerrechtsbruch, um seine nuklearen Drohungen zu unterstreichen und eine gleichzeitige Teilmobilisierung durch die nunmehr notwendige „Landesverteidigung“ zu legitimieren.
Russlands Furcht vor den USA
Aber: es gibt auch riskante Maßnahmen, die das russische Regime bisher nicht ergriffen hat, offenbar aus Sorge vor den wahrscheinlichen Konsequenzen. Beispielsweise hatte Russland letztes Jahr ukrainische Getreideexporte über das Schwarze Meer blockiert. Nach weltweitem Druck und türkischer Vermittlung hat es solche Blockaden dann aber unterlassen.
Trotz mehrmaliger Drohungen hat das Regime bisher keine Atomwaffen eingesetzt, wohl auch aus Furcht vor internationaler Ächtung und Vergeltungsschlägen seitens der Vereinigten Staaten. Auch versucht das Regime weiterhin, einen Stimmungswandel in der eigenen Bevölkerung zu verhindern, etwa durch Wirtschaftshilfen, umfangreichen Einsatz von Söldnern, und einer (gemessen am Potenzial) zurückhaltenden Mobilisierungspolitik.
All das zeigt: Putin und sein Regime scheuen (noch?) bestimmte Risiken, da es sich über den eigenen Machterhalt sorgt. Dies eröffnet der Politik gewisse Optionen. Wohl kalibrierte Drohungen würden weitere russische Eskalationsschritte unwahrscheinlicher machen. Das Versprechen von Druckabsenkung und Wiedereinbindung im Austausch für (zuerst zu erfolgende) konkrete russische Zugeständnisse würde zur Deeskalation und, langfristig, substanziellen Verhandlungen beitragen. (Jonas J. Driedger)