Ukraine-Krieg: Lage im Katastrophen-AKW Tschernobyl unklar – Selenskyjs Berater spricht düstere Warnung aus
Die Internationale Atomenergiebehörde hat offenbar keinen Einblick mehr in die Situation in Tschernobyl. Die Atomruine ist derzeit ohne Strom.
Update vom Mittwoch, 09.03.2022, 14.00 Uhr: Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist auch die Lage in den Atomkraftwerken heikel (s. Erstmeldung). Besonders schlimm ist die Situation wohl im ehemaligen ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Zumindest sprach Präsidentenberater Mychailo Podoljak auf Twitter jetzt eine düstere Warnung aus. Kein Mensch wisse demnach im Augenblick, was in Tschernobyl derzeit eigentlich geschehe, die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) habe jeglichen Kontakt verloren.
Bereits zuvor hatte IAEA-Chef Rafael Grossi mitgeteilt, dass „die Datenfernübertragung der im Kernkraftwerk Tschernobyl installierten Überwachungssysteme ausgefallen ist“. Der ukrainische Energiekonzern Ukrenergo erklärte derweil, die Atomruine von Tschernobyl sei vom Stromnetz abgeschnitten worden. Die Elektrizitätsversorgung der Anlage und ihrer Sicherheitssysteme sei infolge „der militärischen Aktivitäten des russischen Besatzers komplett gekappt“. Kampfhandlungen nördlich von Kiew verhinderten aktuell alle Reparaturarbeiten.
Im Akw Tschernobyl war es 1986 zu einem verheerenden Unfall gekommen, bei dem hunderte Menschen starben und radioaktives Material sich über ganz Europa ausbreitete. Das Kraftwerk ist seitdem stillgelegt, ein riesiger Schutzmantel soll den Austritt von Radioaktivität verhindern.

Ukraine-Krieg: Situation in Atomkraftwerken ist heikel – auch andere Umweltkatastrophen drohen
Erstmeldung vom Dienstag, 08.03.2022: Kiew – Russlands Präsident Wladimir Putin* versteht es nicht nur, mit seinen Atomwaffendrohungen den Westen in Angst und Schrecken zu versetzen. Auch die Kernanlagen in der Ukraine* scheinen bedroht zu sein. Seit der Einnahme des Katastrophen-Reaktors Tschernobyl durch russische Kräfte* am 24. Februar wachsen die Sorgen vor einem nuklearen Unfall.
Am Freitag (04.03.2022) rüttelte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj* die Weltöffentlichkeit mit einem eindringlichen Twitter-Video auf. „Wenn es eine Explosion gibt – das ist das Ende für alle. Das Ende für Europa. Die Evakuierung von Europa.“ Das russische Militär hatte kurz vorher das Kernkraftwerk Saporischschja, das größte Europas, beschossen und einen Brand auf dem Gelände ausgelöst*.
AKW im Ukraine-Krieg unter Beschuss: Selenskyj spricht von „Nuklear-Terror“
Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss des Reaktors und warf dem Regime von Putin „Nuklear-Terror“* vor. Offenbar wolle Russland* die Atomkatastrophe von Tschernobyl wiederholen. „Europa muss jetzt aufwachen. Gerade jetzt beschießen russische Panzer die Reaktorblöcke“, sagte Selenskyj.
Glücklicherweise kam im Nachhinein heraus, dass nur ein Verwaltungsgebäude in Brand geraten war und keiner der Reaktoren beschädigt wurde. Das russische Verteidigungsministerium, die ukrainische Aufsichtsbehörde sowie auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bestätigten, dass in Saporischschja keine erhöhte Strahlung gemessen worden sei.

Und auch Jill Hruby, die Leiterin der Nationalen Verwaltung für Nukleare Sicherheit der USA, stellte gegenüber dem US-Nachrichtensender CNN fest: „In dieser besonderen Situation bestand nie die Gefahr einer nuklearen Katastrophe. Aber es ist klar, dass die Dinge schnell aus dem Ruder laufen können.“
Ukraine-Krieg: Belegschaft im AKW Tschernobyl unter „psychischem Druck“
In der Ukraine gibt es insgesamt fünf Atomkraftwerke – inklusive des stillgelegten havarierten AKW Tschernobyl. Angesichts der russischen Einnahme des Kraftwerks, in dem am 26. April 1986 der bisher schlimmste Nuklearunfall der Geschichte ausgelöst wurde, zeigt sich die IAEA besorgt. Denn obwohl die Reaktoren nicht mehr laufen, befinden sich auf dem Gelände große Mengen an radioaktivem Material.
Zwar konnten in Tschernobyl bisher ebenfalls keine gefährlichen Strahlenwerte gemessen werden, allerdings werden die Sicherheitsprotokolle offenbar nicht eingehalten. Laut der ukrainischen Aufsichtsbehörde konnte die Schicht seit der russischen Einnahme am 24. Februar nicht rotieren.
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine* kümmert sich also das gleiche Personal ohne größere Pause um die Kernanlage. Die IAEA berichtete am Dienstag (08.03.2022) in Wien, dass rund 210 Techniker und lokale Sicherheitsmitarbeiter seit fast zwei Wochen ununterbrochen in dem AKW im Dienst seien, weil unter russischer Kontrolle kein Schichtwechsel durchgeführt worden sei.
IAEA-Chef Rafael Grossi zeigte sich „tief besorgt wegen der schwierigen und belastenden Lage der Mitarbeiter im Atomkraftwerk Tschernobyl, und wegen der möglichen Sicherheitsrisiken, die damit zusammenhängen“.
Neben AKW auch andere Nuklearanlagen in der Ukraine gefährdet
Nicht nur die Atomkraftwerke sind betroffen, auch andere nukleare Anlagen sind gefährdet. Am Sonntag meldeten (06.03.2022) die ukrainischen Behörden einen Artillerieangriff auf eine Atom-Forschungseinrichtung in Charkiw. Dort stieg die Strahlung aber ebenfalls nicht an, teilte die IAEA mit.
Da der „Bestand an radioaktivem Material sehr gering ist“ und in einem „unterkritischen“ Zustand gehalten wird, hätte der gemeldete „Schaden keine radiologischen Folgen gehabt“, betonte die Behörde. Die betroffene Anlage ist Teil des Instituts für Physik und Technologie in Charkiw, eines Forschungsinstituts, das radioaktives Material für medizinische und industrielle Anwendungen herstellt.
„Wir sehen, was in der Ukraine vor Ort passiert. Wenn es dieses Mal zu einem nuklearen Unfall kommt, wird die Ursache nicht ein von Mutter Natur ausgelöster Tsunami sein. Stattdessen wird es das Ergebnis menschlichen Versagens sein, als wir wussten, dass wir handeln können und sollten“, sagte Rafael Grossi am Montag (07.03.2022) in Wien.
Giftige Industriebrände in der Ukraine
Während die Gefahren nuklearer Unfälle in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden, können aber auch andere ukrainische Industriestandorte enorme Schäden an Mensch und Umwelt verursachen. Da die russische Armee bereits Öl- und Munitionsdepots in der Ukraine beschossen hat, lodern dort teils heftige Brände. Giftiger Rauch steigt in den Himmel und verbreitet sich in der Umgebung.
Allein in der Donbass-Region im Osten der Ukraine gibt es 4000 gefährliche Standorte, wie die Nachrichtenplattform Politico herausgefunden hat. Für das Jahr 2019 meldete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Europa 465 spezielle Müllhalden in der gesamten Ukraine, in denen über sechs Milliarden Tonnen Abfall aus verschiedenen Industriezweigen lagern sollen, berichtet Politico. „An diesem Punkt wird deutlich, dass das Potenzial für gigantische Schäden groß ist“, sagte Doug Weir vom Conflict and Environment Observatory (CEOBS). (tvd) *fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.