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Warten auf die Flüchtenden - Polen trifft Vorbereitungen für den Ernstfall

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Von: Jan Opielka

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Lviv ganz im Westen der Ukraine ist eine zutiefst europäische Stadt. Hier wären viele Menschen gerne Teil von Nato und EU.
Lviv ganz im Westen der Ukraine ist eine zutiefst europäische Stadt. Hier wären viele Menschen gerne Teil von Nato und EU. © Opielka

Russland verschärft den Konflikt in der Ukraine – es herrscht Krieg. Das südöstliche Polen bereitet sich schon auf Flüchtende aus dem Nachbarland vor.

Der Ukraine-Konflikt eskaliert, doch nicht alle Menschen in der Ukraine empfinden einen möglichen russischen Angriff gleichermaßen als Bedrohung. Im Westen des Landes wähnt sich ein Gros der Menschen in sicherer Entfernung zum potenziellen Krieg. Viele erwägen dennoch die Ausreise nach Polen, wo inzwischen fast 1,5 Millionen ihrer Landsleute leben. Das Nachbarland bereitet sich auch schon auf eine mutmaßlich große Zahl von Flüchtenden vor, sollten die Kriegsängste Realität werden.

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HauptstadtKiew
Bevölkerung44,13 Millionen (2020)
PräsidentWolodymyr Selenskyj

Vadim Zemlianyi ist in Polen angekommen. Vor sieben Jahren zog der heute 39-Jährige aus der Ost-Ukraine nach Rzeszow im südöstlichen Polen. Die Großmutter von Ziemlianyis Frau war polnischstämmig, und so konnte sich die Familie auf Basis einer „Polen-Karte“ für Auswärtige mit polnischen Wurzeln dort niederlassen. Vor allem aber stießen die kriegerischen Auseinandersetzungen infolge der Maidan-Revolution von 2014 die junge Familie ab – und der Westen zog sie an. „Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass wir damals diesen Schritt getan haben“, sagt Zemlianyi, als er stolz seine Produktionshalle zeigt. Er ist kein Asylsuchender mehr, er ist Gründer und Arbeitgeber in der neuen Heimat.

Die Zemlianyis begannen gleich nach ihrer Ankunft in Polen mit der Herstellung hochwertiger multifunktionaler Gymnastik-Sprossenwände für daheim. Inzwischen hat der Betrieb 15 Angestellte – allesamt Polen. Und wie sieht der neue Unternehmer die Situation in der alten Heimat? „Die Ukrainer haben schon so viel erlebt, dass sie inzwischen müde sind, um Angst zu haben. Sie halten noch mehr zusammen und sind bereit zu kämpfen. Doch könnten viele vor allem aus der jüngeren Generation nach Polen kommen; sie suchen Stabilität und Sicherheit für ihre Familien.“ Für die Zukunft der Ukraine selbst, schiebt er nach, „wäre dies eine Tragödie“.

Russland-Ukraine-Konflikt: Auch die Politik in Polen rechnet mit einer Tragödie

Mit einer „Tragödie“ rechnet auch die Politik in Polen. Viele Städte bereiten sich nun weniger auf arbeitssuchende Migrant:innen vor, als vielmehr auf Schutz suchende Flüchtlinge. Man prüft die Kapazitäten für Unterkünfte und die der medizinischen Versorgung. Anders als bei den Flüchtlingen, die seit Sommer 2021 über die weißrussische Grenze nach Polen wollten, wettert die rechte Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) nun nicht gegen etwaige „Eindringlinge“. Auch deshalb, weil Menschen aus der Ukraine wie die Familie Zemlianyi als Wirtschaftsmigrierte und Arbeitskräfte geschätzt werden. Inzwischen leben und arbeiten rund 1,5 Millionen von ihnen zeitweilig oder dauerhaft im Land. Seit vielen Jahren schon gibt es für sie wie für andere aus weiteren postsowjetischen Republiken und auch aus Russland Kommende die Möglichkeit, in Polen legal zu arbeiten – nicht nur für jene, die polnische Wurzeln haben.

„Schwachkopf Putin“ heißt das Bier, dass das Restaurant „Prawda“ in Lviv gleich reihenweise anbietet.
„Schwachkopf Putin“ heißt das Bier, dass das Restaurant „Prawda“ in Lviv gleich reihenweise anbietet. © afp

Und so hat nun Premier Mateusz Morawiecki einen Stab berufen, der die Ankunft von Flüchtlingen aus dem Nachbarland koordinieren soll. „Wir sind hier, um die Ost-Flanke der Nato zu verteidigen, doch auch aus humanitären Gründen helfen wir der Ukraine und den Ukrainern, um im Falle eines russischen Angriffs die Folgen zu mildern.“ Zugleich gilt seit Kurzem ein Gesetz, das die Arbeitsaufnahme für Menschen aus der Ukraine abermals erleichtert – die stille Hoffnung dürfte wohl sein, dass sich die neuen Kriegsflüchtlinge schnell in Arbeitskräfte verwandeln. Die Geflüchteten, kündigt Morawiecki, würden natürlich im gesamten Land untergebracht. Doch die Erstaufnahme werde im Osten Polens erfolgen.

Ukraine-Konflikt: In Polen gibt es eine anerkannte ukrainische Minderheit

Im Osten des Landes, entlang der gut 500 Kilometer langen Grenze mit der Ukraine, sind UkrainerInnen seit jeher allgegenwärtig. Am Grenzübergang von Medyka stauen sich auch dieser Tage die LKW, ukrainische Bevölkerung von jenseits der Grenze kommt wie eh und je zu Fuß nach Polen, um ihre Waren auf polnischen Straßen zu verkaufen – der „kleine Grenzverkehr“ ermöglicht ihnen den vereinfachten Übertritt. Sie können hier auch auf ihre Landsleute treffen. Denn in Polen gibt es neben den Arbeitsmigrant:innen eine anerkannte ukrainische Minderheit, die übers ganze Land verteilt lebt. Es sind Nachfahren von Menschen, die in brutalen Umsiedlungsaktionen 1947 von Polens kommunistischer Regierung in die neu gewonnenen Westgebiete Polens verbracht wurden und später teilweise dorthin wieder zurückkehrten.

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HauptstadtWarschau
Bevölkerung37,95 Millionen (2020)
PräsidentAndrzej Duda

Zu diesen Rückkehrern in Polens Osten gehört auch Igor Harków. In der grenznahen 60-000-Menschen-Stadt Przemysl ist der 39-Jährige Vorsitzender der regionalen Sektion des Verbands der Ukrainer:innen in Polen „Ukrainisches Haus“. Die Minderheit zählt knapp 50.000 Angehörige, sie ist nach den Deutschen und den Weissruss:innen die drittgrößte im Land. In Przemysl agiert die Organisation der Minderheit von ihrem Stammsitz in einem historischen Mietshaus. Dieses gehörte bereits in der Zeit bis 1939 dem damaligen ukrainischen Minderheitsverband. Heute, sagt der 37-Jährige Harków, funktioniere das Zusammenleben mit der polnischen Mehrheit gut. Bei offenen Veranstaltungen der Minderheit kämen teils bis zu 80 Prozent Einheimische. Vor sechs Jahren sei zwar eine traditionelle religiöse Prozession durch polnische Nationalisten überfallen worden. „Aber im Jahr darauf haben viele Polinnen und Polen demonstrativ an der Prozession teilgenommen.“

Harków selbst hat die polnische und die ukrainische Staatsbürgerschaft. „Auch die Ukraine ist meine Heimat, jede beunruhigende Situation dort bewegt mich emotional.“ Es sei nun eine schwierige Situation. „Wir überlegen die ganze Zeit, wie wir helfen können. Als Verband der Minderheit haben wir dabei auch Erfahrung: durch unser Haus hier sind während des Euromaidan, der Revolution der Würde, Tonnen an humanitärer Hilfe gegangen, die Ukrainer:innen und Pol:innen gespendet haben.“ Daher glaubt er, dass die polnische Gesellschaft für eine vielleicht auch große Zahl an Geflüchteten gerüstet wäre, wenn Krieg ausbricht. „Wenn ich an Polens Reaktionen während der Orangenen Revolution (2004 d.Red.) und an 2014 denke, glaube ich, dass es ähnlich offen reagieren würde. Wichtig wird eher sein, ob der Staat administrativ und infrastrukturell vorbereitet sein wird, die Menschen würdig aufzunehmen.“

2014 hatte Harkóws Organisation Hilfsgüter nach Lviv weitergeleitet. Die rund 100 Kilometer entfernt liegende, wichtigste Großstadt der Westukraine, ist heute erneut im internationalen Fokus: Etliche Staaten haben in den vergangenen Wochen angekündigt, ihr Botschaftspersonal von Kiew dorthin zu verlegen – aus Sicherheitsgründen, denn Lviv liegt 550 Kilometer westlich von Kiew. Die Stadt wird als eine Art europäischer Vorposten der Ukraine gesehen – kulturell, politisch und ökonomisch.

Russland-Ukraine-Konflikt: Wladimir Putin geht es um die gesamte Ukraine

Die 750.000 Menschen zählende Stadt war bis 1939 Teil der damaligen Polnischen Republik, viele weit über die Stadt hinaus bekannt Gewordene stammen aus dem einstigen Lwów, der Science-Fiction-Schriftsteller Stanislaw Lem etwa oder der bedeutende Oppositionelle Jacek Kuron. Heute zeugen indes nicht nur die vielen Bus- und Bahnverbindungen zwischen Lviv-Przemysl-Rzeszów davon, wie eng verzahnt dieser Zwischenraum nun ist. Seit gut zehn Jahren und im Rahmen des Programms „Östliche Partnerschaft“ kooperieren die beiden Regionalverwaltungen über alle Grenzen hinweg.

Mitte Februar scheint das Leben in Lviv seinen gewohnten Gang zu gehen. Junge und alte spazieren durch das quirlige Zentrum, eine Gruppe Jugendlicher lacht lauthals, als sie Gruppenfotos machen. „Ich fühle mich sicher hier. Doch meine Eltern leben in Kiew, und dort ist die Situation anders. Wir sprechen aber auch nicht übermäßig viel über die Lage“, sagt Dasha, die seit fünf Jahren in Lviv Bankenwesen studiert und nebenbei in einem Museum arbeitet. Die junge Frau ist sich sicher, dass Landsleute im Kriegsfall aus dem Osten hierher ziehen könnten – aus den gleichen Sicherheitsgründen, aus denen der Tourismus derzeit einen weiten Bogen um die Stadt macht, wie ein Kneipenbesitzer in der Altstadt enttäuscht erzählt.

Das während des Zweiten Weltkriegs kaum zerstörte Zentrum Lvivs, das seit 1998 Unesco-Welterbe ist, kennt Historiker Oleh Pavlyshyn sehr gut. An einem verregneten Abend zeigt der 60-Jährige aber lieber das altehrwürdige Hauptgebäude der Universität, die – 1661 gegründet – nach Krakau als zweitälteste polnische Hochschule firmierte – und als älteste der Ukraine. Pavlyszyn ist Experte für ukrainisch-polnische Beziehungen. Seit 2014, sagt er, sei unter seinen Landsleuten die Zahl derer für einen Nato-Beitritt der Ukraine deutlich gestiegen. „So wirken die US-Soldaten, die zuletzt im polnischen Rzeszów landeten (Verstärkung der nato-Ostflanke und Hilfe für dort gestrandete US-Staatsangehörige, d.Red.), für viele beruhigend. Kein Wunder, meine Landsleute sehen: Wladimir Putin geht es nicht allein um den Donbass oder die Krim. Ihm geht es um die gesamte Ukraine.“

Krieg mit Russland? Ukraine blickt mehr denn je in Richtung Polen

Und wie fühlten die Menschen jetzt, hier, im Westen des Landes? „Man kann sein Leben nicht planen, die Menschen haben Angst um ihre Arbeit, ihre Kinder. Es herrscht bei uns zwar keine Panik, doch es kommen tatsächlich Leute aus Donezk, aus Kiew.“ Die Nähe zu Polen und EU, sagt Pavlyszyn, müsse dennoch nicht Wegzug oder Flucht bedeuten. „Viele haben die Möglichkeit, in den Westen zu gehen. Doch sie wollen nicht. Auch ich versuche, meinen Studierenden zu vermitteln: Wir müssen den Lebensstandard bei uns heben, unser Leben hier verbessern, und bereit sein, unser Land zu verteidigen. Und ich denke, dass wir das schaffen.“

Dass Kampf notwendig sei, glaubt auch Ostap Protsyk. Der 45-Jährige ist Gründer des Lviver Medienforums und seit vielen Jahren Berater des Bürgermeisters. „Lviv hat in der aktuellen Situation die Rolle einer Basis übernommen – Krankenhausbetten und Unterkünfte werden vorbereitet, städtische Infrastruktur wie Wasserleitungen und Elektrizität für den Notfall aufgemöbelet.“ Die Neutralität des Landes, die im Ausland immer wieder empfohlen werde, habe bislang nichts gebracht, sagt Protsyk. „Wir waren so lange neutral, und Ergebnis sind besetzte Gebiete im Osten. Die Strategie Russlands ist klar: Entweder die Ukraine ist mit uns, oder es wird sie gar nicht mehr geben.“ Er ist skeptisch und nüchtern realistisch ob der nahen Zukunft. „Das sind Zeiten des Krieges für Unabhängigkeit. Solche Kriege gewinnt man, oder man verliert sie. Ich kann mich an keine Kriege in der Geschichte erinnern, in denen sich ein Land unabhängig machen wollte, und dabei irgendwelche Kompromisse geschlossen wurden.“

LandRussland
HauptstadtMoskau
Bevölkerung144,1 Millionen (2020)
PräsidentWladimir Putin

Prostyk erzählt all dies, als wäre der Krieg unumgänglich, aber auch, als dürfe man darob nicht verzweifeln. Denn die Stimmung, sagt er, habe sich seit 2013/2014 im gesamten Land deutlich gegen Russland gewendet – auch im Osten. Dazu hätten indirekt auch die Ereignisse in Belarus beigetragen. „Viele Jahre lang war Lukaschenko unter Ukrainern der beliebteste ausländische Politiker – er regierte mit harter Hand, brachte aber auch relative Stabilität, sichere Arbeitsplätze, gute Straßen. Nun spottet man: Auf den guten Straßen wird man, bei bequemer Fahrt, geraderücks ins Gefängnis gebracht.“ Heute blicke die Ukraine daher mehr denn je in Richtung Polen. „Polen ist unter Ukrainer:innen eines der beliebtesten Länder. Es ist uns ein Vorbild dafür, wozu es führen kann, wenn man entschieden Richtung Westen geht, und nicht – so wie die Ukraine bislang – schwankt. Die Migration nach Polen ist dafür der beste Beleg.“

Fallschirmjäger der 82. Luftlandedivision trainieren zusammen mit ihren polnischen Verbündeten.
Fallschirmjäger der 82. US-Luftlandedivision trainieren zusammen mit ihren polnischen Verbündeten. © ALEXANDER BURNETT/afp

Ukraine-Konflikt: US-Truppen sind seit Anfang Februar in Polen

Im Zugfahrt aus Lviv nach Przemysl ist auch ein ukrainisches Ehepaar aus Kiew. Sie reisen beruflich nach Polen, es geht ihnen materiell gut. „Ich habe drei Söhne,“ sagt Jaroslav Kalejew (Name von der Redaktion geändert), „und einer von ihnen hat von einem Freund in Schweden ein Angebot bekommen: er habe eine Wohnung, mein 25-jähriger Sohn könne im Falle eines Krieges dorthin kommen. Doch er will nicht, er will im Kriegsfall bleiben und kämpfen. In einer Freiwilligen-Einheit, mit der er bereits übt.“ Er und seine Frau scheinen sich damit abgefunden zu haben, in den Worten des Vaters ist sogar ein gewisser unterschwelliger Stolz herauszuhören. „Gott wird das schon alles richten“, sagt Kalejew. Und auch die ukrainische Führung, vor allem das Militär, hätten ihre Hausaufgaben inzwischen gemacht: die Armee sei nun, anders als noch 2014, gut ausgerüstet und geschult.

Auf der Weiterfahrt nach Westen, mit dem Auto auf der Autobahn A4, die von den Niederlanden über West- und Ost-Deutschland, Süd-Polen bis in die Ukraine führt, fährt in entgegengesetzter Richtung ein Konvoi aus gut zwei Dutzend US-Militärfahrzeugen. Die Truppen sind seit Anfang Februar in Polen. Rund um den Flughafen von Vadim Zemlianiys neuer Heimatstadt Rzeszów sind allenthalben US-amerikanische Soldaten in Uniform zu sehen, das Gros junge Männer. Sie werden von hier aus in andere Teile Polens verteilt – wohin genau, will der polnischen Verteidigungsminister bislang verständlicherweise nicht sagen. Nur soviel: in den „südöstlichen Teil“. „Mit den Soldaten hier gibt es keine Probleme“, sagt ein am Flughafen in Rzeszów lebender Bürger. Ob die Anwesenheit so vieler Militärs ihm und anderen in der Stadt oder Region keine Angst mache? „Nein. Wenn ich wählen müsste, diese Amerikaner oder aber die Russen – dann nehme ich doch lieber die Amerikaner.“ (Jan Opielka)

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