„Der Kreml hat kein Interesse an einer erfolgreichen Ukraine“
Europaabgeordneter David McAllister spricht im Interview mit fr.de und IPPEN.MEDIA über die russische Aggression an der Grenze zur Ukraine und mögliche Sanktionen der EU.
Nach wie vor droht der Konflikt zwischen Russland* und der Ukraine* zu eskalieren. Nato und Europäische Union bemühen sich weiter um eine diplomatische Lösung. Doch was passiert, wenn die Aggression an der Grenze real wird?
Im Interview mit IPPEN.MEDIA spricht Europaparlamentarier David McAllister (CDU*) über die Folgen eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine, gibt einen Einblick in die Sanktionen, die die EU gemeinsam mit ihren Partnern plant und erklärt, was aus seiner Sicht Russlands Präsident Wladimir Putin* antreibt.
Herr McAllister, Frank-Walter Steinmeier fand bei seiner Wiederwahl als Bundespräsident deutliche Worte für Wladimir Putin. Wie haben Sie die Rede vernommen?
Frank-Walter Steinmeier* hat die passenden Worte gefunden. Man muss die Verantwortlichen im Kreml direkt ansprechen. Einen solchen Truppenaufmarsch an der Grenze eines anderen Landes hat unser Kontinent seit Jahrzehnten nicht gesehen. Was dort passiert, ist ein beispielloses Infragestellen der europäischen Sicherheitsarchitektur, auf die wir uns vor Jahrzehnten verständigt haben. Dazu gehört die Anerkennung der Unabhängigkeit, der Souveränität und der territorialen Integrität der Staaten. Es geht nicht, dass wir uns gegenseitig bedrohen. Was aber an der Grenze der Ukraine passiert, ist eine ganz akute Bedrohung.

Bundeskanzler Olaf Scholz* (SPD*) reiste nach Moskau und traf dort Wladimir Putin. Unmittelbar danach kündigte Putin einen Teilabzug russischer Truppen an. Glauben Sie dem russischen Präsidenten?
Was die Ankündigungen des Abzugs angeht: Wir müssen Putin an Taten messen, nicht an Worten. Der Kreml ist unberechenbar. Es gibt keinerlei Beweise, dass wirklich ein Teil der russischen Truppen abgebaut wird. Unsere Forderung wiederum ist klar: Es müssen alle russische Truppen unmittelbar abziehen.
David McAllister berichtet über Eindrücke aus der Ukraine
Sie waren selbst vor kurzem als Teil einer europäischen Delegation in der Ukraine. Wie waren Ihre Erfahrungen vor Ort?
Von allen Eindrücken ist mir Mariupol am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Diese Hafenstadt am Asowschen Meer liegt nur wenige Kilometer von der Kontaktlinie zu den besetzten Gebieten im Donbass entfernt. Es gibt dort einen großen Hafen, doch was fehlte, waren die Schiffe. Wir zählten genau eines. Das ist ein Beleg dafür, dass das Asowsche Meer längst einer de facto See-Blockade unterliegt.

Wie geht es den Menschen vor allem in der Ostukraine?
Seit 2014 und der illegalen Annexion der Krim durch Russland sowie durch die Ausrufung der nicht anerkannten „unabhängigen Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk gibt es fast täglich bewaffnete Auseinandersetzungen in der Region. Jede Woche sterben auf ukrainischer Seite Menschen. Es kommen Scharfschützen, Drohnen und Artillerie zum Einsatz. 14.000 Menschen haben seit 2014 bereits ihr Leben verloren. Die Sorgen sind entsprechend groß. Aber die Menschen versuchen, ein normales Leben zu führen und gelassen zu bleiben. Eine junge Frau sagte mir: „Wenn hier jetzt Panik ausbricht, dann hat Putin sein Ziel erreicht.“
Eine junge Frau sagte mir: „Wenn hier jetzt Panik ausbricht, dann hat Putin sein Ziel erreicht.“
Gibt es außer den Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den russischen Separatisten weitere Versuche Russlands, Einfluss zu üben?
Der Kreml versucht permanent, die Ukraine zu destabilisieren - ob wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich, durch Cyberangriffe oder schlicht durch Desinformationen und Fake News. Der Kreml hat kein Interesse an einer wirtschaftlich erfolgreichen Ukraine. Die Ukraine steht für freiheitliche Demokratie. Das will Putin eben nicht. Umso wichtiger ist weiterhin die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung der Ukraine seitens der Europäischen Union.
Ukraine-Konflikt: „Moskau ist für diese Lage verantwortlich“
Reicht das aus, um den Konflikt mit Russland zu lösen?
Eine kriegerische Auseinandersetzung muss jetzt mit allen Mitteln vermieden werden. Moskau ist für diese Lage verantwortlich. Von dort muss deeskaliert werden.
Spricht die EU gegenüber Russland mit einer Stimme?
Die EU und die Nato treten in diesem Konflikt sehr geschlossen auf. Das aggressive Verhalten des Kremls hat die transatlantische Partnerschaft und den Zusammenhalt innerhalb Europas gestärkt. Der Kreml hat uns so enger zusammengeschweißt. Ein Beispiel dafür ist die Kommunikation mit der russischen Regierung. Außenminister Sergei Lawrow hatte einzelne Briefe an alle EU-Mitgliedsstaaten und an die Staaten der Nato geschickt. Als Antwort erhielt er genau zwei Briefe: ein Schreiben von Josep Borrell im Namen der EU und eines von Jens Stoltenberg im Namen der Nato. Die russischen Versuche, die westliche Allianz zu spalten, führen ins Leere.
Sanktionen gegen Russland wegen der Ukraine? „Es liegen alle Optionen auf dem Tisch“
Nun tritt wegen der Ukraine-Krise der Europäische Rat zusammen. Was wird dort besprochen?
Ursula von der Leyen wird die Staats- und Regierungschefs dort vertraulich informieren über alle Maßnahmen, die von der EU in enger Abstimmung mit unseren Partnern aus den USA*, Kanada und Großbritannien* vorbereitet wurden für den Fall einer militärischen Aggression gegen die Ukraine. Ohne Details zu nennen: Ein solcher Schritt hätte enorme wirtschaftliche Konsequenzen zur Folge – verbunden mit hohen Kosten für Russland. Und es wird darauf zu achten sein, dass diese Konsequenzen zielgerichtet das Umfeld von Präsident Putin treffen – die Verantwortlichen der Aggression. Der Kreml weiß, was auf dem Spiel steht.
Zur Person
David McAllister ist am 12. Januar 1971 geboren und seit über 30 Jahren Mitglied der CDU. Von 2008 bis 2016 war McAllister Vorsitzender der CDU in Niedersachsen und von 2010 bis 2013 Ministerpräsident des Bundeslandes. Seit 2014 ist der heute 51 Jahre alte Politiker Abgeordneter der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Seit 2017 leitet er dort den Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten.
David McAllister ist seit 2003 mit der Rechtsanwältin Dunja McAllister verheiratet. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder und wohnt in Bad Bederkesa, ein Ort in Niedersachsen, in dem McAllister 2001 seine politische Karriere als Bürgermeister begonnen hatte.
Verstehen Sie die Sicherheitsbedenken Russlands angesichts einer sich ausweitenden Nato?
Putin stellt die europäische Sicherheitsarchitektur infrage. Diese fußt auf internationalen Vereinbarungen, die auch für den Kreml gelten. Und dazu gehört, dass man nicht einfach ein Land angreift und einen Teil davon annektiert. Genau das aber hat Russland 2014 mit der Krim getan. Das war ein völkerrechtswidriger Akt, wie es ihn in Europa seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Der Grund für das aggressive Verhalten des Kremls ist nicht die Erweiterung der NATO. Es ist vielmehr die Attraktivität der Freiheit und der Demokratie, die den russischen Oligarchen Sorge bereitet. Die NATO ist in ihrem Kern defensiv ausgerichtet. Das Herzstück unserer Organisation ist Artikel 5, der alle Mitglieder dazu verpflichtet, einem anderen Mitglied zu Hilfe zu kommen, wenn dieses angegriffen wird.

„Die Ukraine ist ein souveräner Staat und damit auch die freie Bündniswahl“
Einen Nato- oder EU-Beitritt der Ukraine lehnen Sie also nicht ab?
Die Ukraine ist nach wie vor ein souveräner Staat und hat damit die freie Bündniswahl. Doch darum geht es aktuell nicht und das steht auch gar nicht an. Der Kreml versucht, die Welt in Interessensphären einzuteilen. Das passt einfach nicht ins 21. Jahrhundert. Russland hat nicht über die Bündnisse der Ukraine zu entscheiden.
Der Kreml versucht, die Welt in Interessensphären einzuteilen. Das passt einfach nicht ins 21. Jahrhundert.
Hat sich das russische Auftreten auf dem internationalen Parkett in den vergangenen Jahren verändert?
Die russische Außenpolitik verschärft sich seit 2008 konstant. Die Annektion der Krim war der vorläufige Höhepunkt. Russland hält Teile von Georgien ebenso wie Gebiete in Moldawien besetzt. Es gab das brutale Vorgehen der russischen Armee im Bürgerkrieg in Syrien*. Gleichzeitig versucht der Kreml, die westliche Welt durch seine Propaganda und durch die Verbreitung von Fake News zu destabilisieren. Es gab politische Auftragsmorde in Deutschland und Großbritannien. Diese Liste könnte man weiter fortführen. Seit Jahren gibt es dieses destruktive und aggressive Verhalten Moskaus. Jetzt erfahren wir eine neue Dimension.
David McAllister: Europa muss in Ukraine-Krise mit Russland im Gespräch bleiben
Aber wie reagiert man am besten auf diese neue Dimension?
Die Möglichkeiten der Diplomatie sind noch nicht ausgeschöpft. Es benötigt weiterhin eine geschlossene und entschlossene Reaktion. Geschlossenheit ist die eigentliche Stärke des Westens. Diese wird auch im Kreml zur Kenntnis genommen. Auf Einschüchterungen und Bedrohungen wird die EU nicht reagieren. In Europa gilt die Stärke des Rechts. Das ist das Gegenteil vom Recht des Stärkeren.
Können Sie sich auch einen bewaffneten Einsatz der Nato in der Ukraine-Krise vorstellen?
Nein. Der Westen hat ein militärisches Engagement kategorisch ausgeschlossen. Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied. Aber was finanzielle und wirtschaftliche Konsequenzen angeht, liegt alles auf dem Tisch.
Ukraine-Krise: Sanktionen gegen Russland sollen das Umfeld Wladimir Putins treffen
Wäre Europa überhaupt in der Lage, Russland militärisch entgegenzutreten?
Die NATO ist die dauerhafte Grundlage für die kollektive Sicherheit und Verteidigung Europas. Die EU ist traditionell eine „Soft Power“. Diplomatie, Konfliktverhütung, multilaterale Kooperation, Entwicklungszusammenarbeit - das sind unsere Stärken. Aber wir brauchen neben „Soft Power“ auch mehr „Hard Power“, die wir, wenn es darauf ankommt, einsetzen könnten. Dazu gehört, mehr sicherheits- und verteidigungspolitische Kapazitäten aufzubauen.
Was wird dann aus der Nato?
Diese EU-Aktivitäten dürfen nicht im Wettbewerb zur NATO stehen oder gar gegen sie gerichtet sein. Ganz im Gegenteil. Es geht darum den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken, damit wir souveräner strategische Entscheidungen treffen können - falls Europa eine Situation anders bewertet als unser wichtigster Bündnispartner, die USA. Das haben wir in Afghanistan* erlebt. Selbst wenn wir uns in der EU damals dazu entschieden hätten, den Flughafen in Kabul noch länger zu halten, wir wären gar nicht in der Lage dazu gewesen. Es ist deshalb ein Ziel der EU, in den kommenden Jahren eine militärische Eingreiftruppe („rapid deployment force“) von bis zu 5.000 Frauen und Männern aufzubauen. (Interview: Daniel Dillmann, Jens Kiffmeier, Marcel Bohnensteffen)*fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA