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Ibrahim Arslan: „Zehn Jahre nach dem NSU ist zehn Jahre vor dem NSU“

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Von: Hanning Voigts

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„Jede Geschichte zählt“: Ibrahim Arslan überlebte den Anschlag von Mölln 1992 und kämpft dafür, dass Opfer gehört werden. Foto: AP Photo/Christian Eggers.
„Jede Geschichte zählt“: Ibrahim Arslan überlebte den Anschlag von Mölln 1992 und kämpft dafür, dass Opfer gehört werden. © picture alliance / AP

Ibrahim Arslan überlebte 1992 den rechtsextremen Brandanschlag von Mölln. Im Interview spricht er darüber, was sich nach dem Auffliegen des NSU-Trios vor zehn Jahren für ihn änderte, und über die Bedeutung antirassistischer Bildung.

Herr Arslan, wir wollen über rechten Terror sprechen, weil das Bekanntwerden der NSU-Mordserie zehn Jahre zurückliegt und Sie selbst 1992 einen rassistischen Terroranschlag überlebt haben. Können Sie sich erinnern, was die ersten Berichte über den NSU bei Ihnen ausgelöst haben?

Natürlich. Für mich war die Selbstenttarnung des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ eine Zäsur in meinem Leben. Die politische Arbeit, die ich heute als Betroffener rassistischer Gewalt mache, hat erst damals richtig angefangen. Ich habe mich 2011 dabei ertappt, dass auch ich die Perspektive der NSU-Betroffenen nicht berücksichtigt hatte. Seit dem Mord an Enver Simsek 2000 haben die Angehörigen der Ermordeten elf Jahre lang versucht, diese Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Mörder Neonazis gewesen sein könnten. Aber die Täter wurden in der migrantischen Community gesucht. Das hat mir gezeigt, dass wir als Gesellschaft bei solchen Taten davon ausgehen sollten, was die Betroffenen sagen. Ich habe 2011 als Erstes versucht, allen Angehörigen der NSU-Opfer Briefe zu schicken. Beim „Birlikte“-Festival 2014 in Köln habe ich dann die ersten kennengelernt.

Hatten Sie so etwas wie den NSU vor 2011 für möglich gehalten?

Als Betroffener habe ich natürlich gewusst, dass Rassismus in dieser Gesellschaft herrscht und dass er aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Aber dass der Rassismus so eine Dimension hat, dass er bundesweit Menschen ermorden und Bomben legen kann, eine terroristische Struktur hinter sich bringt und nach den Anschlägen nur gegen die Opfer ermittelt wird, war mir nicht klar.

Ibrahim Arslan: „Wir Betroffene haben uns vernetzt“

Aber Sie haben sich dann unmittelbar mit den Angehörigen verbunden gefühlt?

Ja, natürlich. Die Taten gegen Menschen mit Migrationshintergrund schweißen uns zusammen. Dass die Betroffenen solcher Taten überhaupt keine Rolle spielen, dass ihnen nicht zugehört wird, dass wir als Gesellschaft uns mehr mit den Täterinnen und Tätern auseinandersetzen, das hatten wir ja schon 1992 in Mölln erlebt. So wurde mit uns auch umgegangen. Ich nenne das den „zweiten Anschlag“, der von der Gesellschaft, den Medien und der Politik ausgeht, wenn Betroffene rechter Gewalt wieder rassistisch behandelt und instrumentalisiert werden. Und das war schon nach der Shoah so, dass Jüdinnen und Juden die Schuld für ihre eigene Verfolgung und Ermordung gegeben wurde. Das gehört zur deutschen Leitkultur.

Heute organisieren sich Betroffene rechter Gewalt selbst, es gab zum Beispiel das „Festival of Resilience“ von Opfern und Überlebenden der Anschläge in Hanau und Halle. Und auch in der Zivilgesellschaft gibt es eine Auseinandersetzung mit dem NSU ...

Na ja, diese Auseinandersetzung müssten Sie mir erst mal zeigen. Die Impulse kommen alle aus der Betroffenen-Community. Wir Betroffene haben uns vernetzt, wir kämpfen für ein respektvolles Gedenken. Solidarität aus der Gesellschaft gibt es viel zu wenig. Überlegen Sie mal, wie wenige Menschen nach der Selbstenttarnung des NSU auf die Straße gegangen sind. Das ist beschämend.

Wie bewerten Sie die Aufklärung des NSU-Komplexes?

Es ist wenig bis gar nichts aufgeklärt. Parallel zur Aufklärung kam gleich zu Beginn das Vertuschen der Verstrickung der Behörden, das Unter-den-Teppich-Kehren des strukturellen Rassismus, das Schreddern der Akten. In Hamburg gab es nicht einmal einen Untersuchungsausschuss. Das alles auf dem Rücken der Angehörigen.

Ibrahim Arslan: „Betroffene müssen kämpfen, dass sie und ihre Geschichten im Vordergrund stehen“

Warum ist es Ihnen wichtig, dass die Opfer rechter Gewalt beim Gedenken im Zentrum stehen?

Weil es ihnen gehört. Die Betroffenen haben die Herrschaft über das Gedenken. Wenn Institutionen Gedenken vereinnahmen, um ihr Image aufzupolieren, dann ist das kein authentisches Gedenken. Und das passiert leider immer wieder in Städten, wo Menschen ermordet worden sind.

Antirassismus-Aktivist Ibrahim Arslan bei seiner „Moellner Rede im Exil“ im Historischen Museum in Frankfurt. Foto: Renate Hoyer.
Antirassismus-Aktivist Ibrahim Arslan bei seiner „Moellner Rede im Exil“ im Historischen Museum in Frankfurt. © Renate Hoyer

Zur Person

Ibrahim Arslan (36) überlebte im Alter von sieben Jahren den rassistischen Brandanschlag vom 23. November 1992 in Mölln in Schleswig-Holstein.

Seine Großmutter Bahide Arslan, seine Schwester Yeliz und seine Cousine Ayse verloren bei dem Anschlag ihr Leben. Arslan verdankt sein Leben seiner Großmutter Bahide, die ihn in nasse Decken wickelte.

Als Überlebender, Bildungsreferent und Aktivist setzt Arslan sich heute gegen Rassismus und für Erinnerung an die Opfer rechten Terrors ein.

Er spricht bundesweit in Schulen und auf Konferenzen und ist Mitbegründer der „Möllner Rede im Exil“, die seit 2013 in Abgrenzung von der Stadt Mölln eine eigene Gedenkkultur von Angehörigen rassistischer Morde etabliert. han

Das haben Sie schon der Stadt Mölln vorgeworfen, weshalb Sie seit 2013 die Gedenkveranstaltung „Möllner Rede im Exil“ in verschiedenen Städten machen.

Wir haben das der Stadt Mölln nicht vorgeworfen, wir haben das einfach festgestellt. Und andere Städte haben wie Mölln arrogant die Gestaltung der Gedenkveranstaltungen an sich gerissen.

Nach dem Anschlag in Hanau wurde durchaus versucht, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Ändert sich da vielleicht gerade der Umgang?

Unser ganzes Gespräch zeigt Ihnen doch, dass Betroffene immer dafür kämpfen müssen, dass sie und ihre Geschichten im Vordergrund stehen. Dafür mussten die Opfer von Hanau kämpfen, die Opfer des NSU, aber auch schon die Opfer rechter Gewalt in den 80er und 90er Jahren. Schon Shoah-Überlebende haben jahrzehntelang dafür gekämpft, dass die Namen, die Geschichten der Ermordeten im Vordergrund stehen und nicht die der Täter.

Ibrahim Arslan: „Wir leben in einer privilegiert-weiß dominierten Gesellschaft“

Wie bewerten Sie den aktuellen Umgang mit rechtem Terror – zehn Jahre nach dem NSU?

Zehn Jahre nach dem NSU ist zehn Jahre vor dem NSU. Wir haben immer noch Morde, der NSU macht weiter, in Hanau, in Halle, in Kassel. Ich formuliere das so, weil Nazis weiterhin aus dem Untergrund morden können, sich vernetzen können, für den Verfassungsschutz arbeiten können. Und es wird weitergehen, solange wir als Gesellschaft nicht anerkennen, dass Rassismus unser Problem ist. Wir leben in einer privilegiert-weiß dominierten Gesellschaft, deren Mehrheit nicht von dieser Gewalt betroffen ist. Deshalb wird sie in ihrem Kokon steckenbleiben und nicht sensibel auf diese Taten schauen. Dabei ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gegen Rassismus und Faschismus anzukämpfen.

Gehen Sie davon aus, dass der rechte Terror gestoppt werden könnte, wenn die Gesellschaft in Ihrem Sinn umdenken würde?

Den Terror kann man nur stoppen, wenn man erst einmal einsieht, dass wir rechten Terror haben. Und wenn man anerkennt, dass Rassismus in Deutschland existiert. Solange der Rassismus immer verharmlost wird, auch der in den Behörden, solange wir an den Strukturen nichts ändern, so- lange wir nichts im Bildungsystem anfangen, Kinder dazu zu erziehen, antirassistisch zu werden, werden wir keine antifaschistische Gesellschaft haben.

Sie machen selbst antirassistische Bildungsarbeit, Sie sprechen auf Podien und vor Schulklassen. Was erleben Sie dabei?

In den Schulen gibt es sehr gute Momente mit Schülerinnen und Schülern. Ich erzähle meine eigene Geschichte und die Geschichten der Ermordeten seit den 80er Jahren. Wir sprechen über Mobbing und Alltagsrassismus. Das führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler, die selbst betroffen sind, empowert werden und ihre eigenen Geschichten erzählen.

Sie haben in Bezug auf die Opfer von Hanau in einem Text gefordert, es dürfe kein Vergessen geben. Sehen Sie diese Gefahr auch bei den Opfern des NSU?

Ich finde, dass der NSU und seine Opfer schon in Vergessenheit geraten sind. Das hängt damit zusammen, dass es nach 2011 zwar einen Prozess, aber auch neue Mordtaten gab. Bevor die Opfer Forderungen stellen und ihre Geschichten erzählen konnten, gab es schon die nächsten Opfer. Wir arbeiten daran, dass jede Geschichte zählt, auch die der Menschen, die schon in den 80er Jahren angegriffen wurden, in Solingen, in Rostock-Lichtenhagen, in Hoyerswerda. Wenn die Betroffenen das Zepter nicht selbst in die Hand nehmen, wird niemand unsere Geschichten erzählen. Dabei sind wir Opfer und Überlebenden keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen.

Interview: Hanning Voigts

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