Ungewohnt kritische Stimmen in Russlands Staats-TV: Warum verfehlt Putin alle Ziele im Ukraine-Krieg?
Möglicherweise läuft es in der Ukraine für Russland doch nicht so „nach Plan“ des Kremls. Diese kühne Behauptung stellt nun ein Experte im Staatsfernsehen auf.
Moskau – Die Propaganda von Russlands Präsident Wladimir Putin im eigenen Land tut sich schwer damit, Verluste im Ukraine-Krieg einzuräumen. Doch die zuvor proklamierten Kriegsziele konnten die russischen Streitkräfte bislang – ganz objektiv gesehen – nicht erreichen. Der russische Journalist und Kommentator Maxim Jusin ging sie nun Punkt für Punkt durch und stellte in aller Öffentlichkeit fest, dass die ukrainische Armee „heute noch besser aufgestellt ist als vor zehn Monaten.“
Er betrachtete die erklärten Ziele von Präsident Putin und die Situation, in der sich Russland fast elf Monate nach der Invasion der Ukraine befindet. Zu den Absichten Russlands habe gezählt, das Nachbarland zu „entmilitarisieren“ und zu „entnazifizieren“. Der Krieg sei nach Angaben des Kremls außerdem von wesentlicher Bedeutung für die eigene Sicherheit gewesen, um das Vordringen der Nato an die russischen Grenzen zu verhindern.

Russlands Misserfolge im Ukraine-Krieg: „Entmilitarisierung“ hat „noch nicht funktioniert“
Die Resultate lassen zu wünschen übrig: „Es ist klar, dass die Entmilitarisierung noch nicht funktioniert“, sagte er in der Sendung, die auf TV Center ausgestrahlt wird, einem der größten russischen Sender. Die Ukraine habe „westliche Waffen erhalten, von denen sie nicht einmal geträumt hat“. Infolgedessen konnte ihre militärische Stärke seit der Invasion nicht reduziert werden.
Zur „Entnazifizierung“ hatte Jusin ebenfalls Anmerkungen: Die Kommandeure des Asow-Bataillons, deren rechtsextreme Einstellung der Kreml wiederholt als Grund für seinen Einmarsch angeführt hatte, wurden nach ihrer Gefangennahme in Mariupol nicht vor Gericht geladen, wie es zuvor angekündigt wurde. „Sie wurden ausgetauscht, und im Allgemeinen ist die Popularität ihrer Ideen in der Ukraine so groß wie eh und je“, so Jusin.
Im September wurden bei einem Gefangenenaustausch von Russland und der Ukraine mehr als 200 ukrainische und ausländische Staatsbürger aus russischer Gefangenschaft entlassen. Darunter befanden sich auch Kämpfer, die die Verteidigung des Stahlwerks Azovstal in Mariupol angeführt hatten.
Ziele des Kremls: Russlands Ukraine-Krieg bewirkt das Gegenteil
Jusin wies auch darauf hin, dass der Ukraine-Krieg Russland nicht sicherer gemacht habe, und mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato werde die Allianz „sehr nahe an St. Petersburg herankommen“. Mehrere russische Regionen wie unter anderem die Krim „stehen unter ständigem Beschuss, was wir uns vor einem Jahr nicht vorstellen konnten.“ Seinen Informationen nach seien seit Beginn des Krieges mehr als 1100 Menschen in der Donbass-Region getötet worden, so Jusin, und verglich dies mit der Zahl der Todesopfer aus einem Jahr vor dem Krieg von nur „sieben Zivilisten“.
„Läuft also wirklich alles nach Plan oder ist es an der Zeit anzuerkennen, dass nicht alles so ist, und zumindest die offizielle Rhetorik ein wenig zu korrigieren?“ schloss Jusin in dem Beitrag. Der Ausschnitt der russischen Sendung wurde am heutigen Dienstag von Anton Geraschtschenko, einem Berater für innere Angelegenheiten der Ukraine, via Twitter mit englischen Untertiteln veröffentlicht. „Es wird das genaue Gegenteil aller erklärten Ziele der ‚militärischen Spezialoperation‘ erreicht“, zitiert er aus Jusins Beitrag. Und fragt die Leser:innen: „Fangen [die Russ:innen] an, etwas zu ahnen?“
„Unbegründetes Vertrauen“ – Russische „Märchen“ aus dem Ukraine-Krieg
In derselben Sendung kritisierte Jusin laut Angaben von Newsweek bereits im November, dass Moskau eine allzu optimistische Darstellung der militärischen Fähigkeiten Russlands verbreitet habe. Er beschrieb, wie im russischen Fernsehen „unbegründetes Vertrauen“ in Putins Streitkräfte geäußert wurde, das angesichts des Ungleichgewichts der Kräfte Teil eines „Märchens“ sei. Da das russische Staatsfernsehen die Darstellung des Kremls vorantreibt, sei jedoch schwer zu sagen, ob Jusins Äußerungen im Voraus geplant waren.

Jusin hatte jedoch schon zuvor sein Unbehagen über den Ukraine-Krieg zum Ausdruck gebracht. Laut Bericht der Newsweek hatte er am 24. Februar auf Facebook geschrieben, dass der erste Tag der russischen Invasion „wahrscheinlich der schrecklichste Morgen meines Lebens“ war. In einer Nachricht, die wohl an ukrainische Freunde gerichtet war, fügte er demnach hinzu: „Ihr seid nicht meine Feinde – und ihr werdet es auch nie sein.“