Einen Monat vor der Türkei-Wahl: Warum Erdogan zittern muss – und die Opposition noch lange nicht am Ziel ist

Eine Türkei ohne Erdogan? Das ist möglich. Am 14. Mai könnte es der Opposition gelingen, den Dauer-Machthaber zu bezwingen. Ein Experte und eine Politikerin zweifeln einen friedlichen Wechsel an.
Berlin/Köln – Große Versprechungen haben Recep Tayyip Erdogan an die Spitze der Macht gebracht. Das war vor 20 Jahren, als er mit seiner neu gegründeten Partei AKP erstmals die absolute Mehrheit im Parlament erlangte. Und tatsächlich erlebte das Land einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung. Erdogan, der Volkstribun, der Macher. Ein konservativer Politiker, der der Türkei Wohlstand bringt – und den Weg nach Europa weist.
Doch das ist lange her. Spätestens seit den brutal niedergeschlagenen Gezi-Protesten im Jahr 2013 zeigt Erdogan sein anderes Gesicht: das des Autokraten. Die Türkei driftet ab in Richtung Diktatur. Und auch der Wirtschaftsboom ist vorüber. Inflation, Arbeitslosigkeit und zunehmende Proteste prägen das Bild am Bosporus. Das verheerende Erdbeben Anfang des Jahres sorgte für einen weiteren Vertrauensverlust in den einstigen starken Mann Ankaras. Am 14. Mai könnte es der Opposition bei den Wahlen gelingen, den vermeintlich Unbezwingbaren zu bezwingen. Eine Türkei ohne Erdogan? Plötzlich möglich.
Türkei-Wahl: Opposition hat erstmals Chance, Erdogan zu bezwingen
„Noch nie standen die Chancen der Opposition so gut wie diesmal“, sagt Burak Copur. Er ist Politikwissenschaftler in Essen und ein profunder Kenner der Türkei. Im Gespräch mit dem Münchner Merkur sagt der Experte: „Die große Stärke der Opposition ist: Sie tritt weitestgehend vereint auf.“ Das ist nicht selbstverständlich. Ein Sechserbündnis – von der sozialdemokratischen CHP bis zu nationalistischen Kräften – fordert Dauer-Machthaber Erdogan heraus. Was die Opposition eint und, ja, auch zusammenhält, ist die Ablehnung der AKP. Und der Wunsch, zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren.
Nur: Ob das reicht, um Recep Tayyip Erdogan zu bezwingen, ist nicht ausgemacht. Türkei-Experte Copur sieht die Opposition zwar im Aufwind – doch er geht davon aus, dass die Wahlen nicht frei und fair verlaufen werden. „Erdogan wird alles daran setzen, sich an der Macht zu halten“, sagte Copur unserer Redaktion. Die auf Linie gebrachten Medien und die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu, die auch den Stand der Hochrechnungen und Auszählungen zuerst verkünden wird, stehen hinter Erdogan. Der Präsident könnte also noch am Wahlabend versuchen, Fakten zu schaffen – und sich selbst als Sieger auszurufen. „Je knapper das Ergebnis ausfällt, desto leichter wird es für Erdogan“, meint Copur. Der sei, sagt er, nichts anderes als „ein Diktator“.
Der Türkei steuert – so oder so – auf unruhige Zeiten zu. Sollte die Opposition es schaffen, Dauer-Machthaber Erdogan zu besiegen, sei nicht plötzlich wieder alles gut und die Türkei ein demokratischer Staat. Dafür wiegen 20 Jahre AKP-Herrschaft zu schwer. Medien, Justiz, Polizei, Verwaltung, Bildungseinrichtungen – die AKP hat sich den gesamten Staat zur Beute gemacht. Sollte die Opposition die Wahl gewinnen, wartet eine Menge Arbeit auf sie. Letzte Umfragen sahen das Bündnis deutlich in Führung. Reicht das für den Machtwechsel?
Erdogans politisches Ende? Linken-Politikerin erwartet knappes Ergebnis bei Türkei-Wahl
Linken-Politikerin Gökay Akbulut ist skeptisch. Das liegt auch an dem Mann, der den türkischen Präsidenten herausfordert: Kemal Kilicdaroglu (CHP). „Die Chance ist diesmal höher als bisher“, sagt zwar auch sie. Ein deutliches „aber“ schwingt jedoch mit. „Mit einem besseren Gegenkandidaten wäre die Chance noch höher“, glaubt die Sozialwissenschaftlerin. Denn der Oppositionsführer habe schon mehrfach Wahlen gegen Erdogan verloren. Trotz ihrer Sorge hält sie Kilicdaroglu zugute, erfahren darin zu sein, Bündnisse zu schließen, die zum Erfolg führen. Wie etwa das aktuelle Sechserbündnis? Das wird sich zeigen.
Ohnehin dürfte am Ende für viele Wählerinnen und Wähler das schlagende Argument nicht Kilicdaroglu selbst sein, sondern die Abneigung gegen den Amtsinhaber. „Natürlich hilft ihm die zunehmende Unbeliebtheit von Erdogan, die viele seiner Gegner gegen ihn vereint hat“, meint auch Akbulut. Doch selbst wenn das Oppositionsbündnis bei der Präsidentschaftswahl 2023 erfolgreich sein sollte, ist das noch keine Garantie für den Machtwechsel, mahnt die Linke an: „Ich erwarte ein sehr knappes Ergebnis, das von dem Unterlegenen womöglich nicht akzeptiert wird. Insbesondere falls Erdogan verlieren sollte, könnte das noch ein längeres Nachspiel mit sich bringen.“