Türkei-Stichwahl: Welche Rolle die Klimapolitik bei Erdogan und seinem Herausforderer spielt

Bei der Stichwahl um das Präsidentschaftsamt in der Türkei wird auch über die Klimapolitik abgestimmt. Amtsinhaber Erdogan setzt auf fossile Energien.
Die Opposition hat ambitioniertere Klimapläne und will beispielsweise aus der Kohle aussteigen und bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen.
Dieser Artikel liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Climate.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Climate.Table am 17. Mai 2023.
Ankara/Berlin – Nach dem guten Ergebnis in der ersten Runde der Präsidentenwahl in der Türkei kann Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan seine 20-jährige Herrschaft bei der Stichwahl am 28. Mai sehr wahrscheinlich verlängern. Für das globale Klima ist das keine gute Nachricht. Erdoğans Klimapolitik ist bisher nicht sehr ambitioniert. Ein Sieg seines Gegners Kemal Kılıçdaroğlu würde eine ehrgeizigere Klimapolitik versprechen.
Als Mittelmeerland ist die Türkei sehr anfällig für die Folgen des Klimawandels, was immer sichtbarer wird: 2021 erschütterten massive Waldbrände das Land, gefolgt von Sturzfluten, die im selben Monat 97 Menschen töteten. In jüngster Zeit lösten sintflutartige Regenfälle nach den tödlichen Erdbeben im Südosten des Landes Überschwemmungen aus, die 19 Menschen das Leben kosteten.
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Solche verheerenden Katastrophen haben in der türkischen Öffentlichkeit eine zunehmende Sensibilität für den Klimawandel erzeugt. Laut einer öffentlichen Meinungsumfrage, die seit 2018 durchgeführt wird, liegt der Anteil der Menschen, die über den Klimawandel besorgt sind, derzeit bei 83 Prozent und nimmt stetig zu.
Klimaschutz in der Türkei: Veränderungen durch die Stichwahl?
Ein aktueller Bericht des Istanbul Policy Center analysiert die Klima-Versprechen der politischen Parteien und Bündnisse. Das Fazit: ein Sieg der Opposition könnte eine progressivere Klima- und Energiepolitik bedeuten.
Das auffälligste Versprechen der regierenden AKP – das auch in den Plänen der Opposition enthalten ist – ist die Einführung eines Mechanismus für einen CO₂-Preis. Dieser Schritt ist für die türkische Wirtschaft angesichts des geplanten CO₂-Grenzausgleichs der EU (eine Art Zoll auf Importe aus Ländern ohne CO₂-Bepreisung oder Emissionshandel, Anm. d. Red.) von entscheidender Bedeutung. Die AKP bietet jedoch nichts Neues an in Sachen Klimaschutz oder Energiewende.
Im Gegensatz zur Regierungspartei, die den Schwerpunkt auf Entwicklung und Wachstum legt, betont das Oppositionsbündnis das Thema „Gerechte Transformation“ (Just Transition). Sie verspricht, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, das NDC der Türkei zu aktualisieren und einen realistischen Plan zur Emissionsreduktion auszuarbeiten. Die Zusicherung zum Ausstieg aus der Kohle ist Teil dieser Strategie.
Stichwahl Türkei: Unterschiedliche Ansichten zur Klimapolitik in Kılıçdaroğlus Bündnis
In einigen Fragen führten die unterschiedlichen Auffassungen der Partner des Oppositionsbündnisses zu widersprüchlichen Aussagen in dem gemeinsamen Einigungsdokument, und es ist schwer zu sagen, wie sich die Dinge schlussendlich entwickeln werden. Allerdings wird in verschiedenen Berichten behauptet, dass die CHP, die den fortschrittlichsten Energieplan hat, im Falle eines Wahlsiegs von Kemal Kılıçdaroğlu das Energieministerium erhalten würde. In ihrem Energiestrategiepapier verpflichtet sich die CHP, die Kohleverstromung bis 2030 um 30 Prozent zu reduzieren und keine neuen Kohlekraftwerke zu bauen. Sie bezeichnet Erdgas als Brückentechnologie. Dennoch will die Opposition weiterhin nach Erdgas bohren.
Das Bündnis betont außerdem, dass er die Energiemärkte liberalisieren und Subventionen abschaffen will, die das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf dem Markt stören. Dies stützt sich vor allem auf die Kritik an der Regulierungsbehörde für den Energiemarkt (EPDK) des Landes, der vorgeworfen wird, politisiert zu sein und den Markt zu Ungunsten der erneuerbaren Energien zu verzerren.
Ein weiterer wichtiger Unterschied könnte die Atompolitik sein. Die Opposition verspricht, die Bedingungen eines Atomvertrags mit dem russischen Kernenergieunternehmen Rosatom neu zu verhandeln und die Pläne für zwei neue Kernkraftwerke in Sinop und in der westlichen Region Thrakien zu stoppen. Dennoch ist der Block nicht gänzlich gegen die Kernenergie – er plant die Einrichtung eines Kernforschungszentrums, um lokales Know-how zu entwickeln, und den Bau kleiner modularer Reaktoren.
Stichwahl Türkei: Bisher abhängig von fossilen Brennstoffen
Die Energiepolitik der Türkei ist von entscheidender Bedeutung, da der Energiesektor für etwa 85 Prozent der CO₂-Emissionen des Landes verantwortlich ist. Derzeit ist das Land noch stark von fossilen Brennstoffen abhängig. Ein Großteil davon wird importiert.
Während etwa 84 Prozent der Primärenergieversorgung des Landes auf fossilen Brennstoffen basieren, werden rund 70 Prozent der Energieträger importiert. Dies ist sowohl im Hinblick auf die Energiesicherheit als auch auf das wachsende Leistungsbilanzdefizit des Landes ein massives Problem. Die Energieimporte der Türkei beliefen sich im vergangenen Jahr auf 80 Milliarden US-Dollar, und das Land wird immer abhängiger von Russland. Nicht nur bei Erdgas, sondern auch bei Kohle und Atomkraft.
- Kohle: Im Jahr 2022 betrug der Anteil der Kohle an der türkischen Stromerzeugung rund 35 Prozent und wurde von Erdoğan weiterhin als einheimische Energiequelle gepriesen. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Nach Angaben von Ember entfällt ein Großteil der türkischen Kohleverstromung auf importierte Kohle. Der Anteil der Importkohle an der gesamten Stromerzeugung ist von sieben Prozent vor einem Jahrzehnt auf 20 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen. Etwa die Hälfte dieser Importe kommt inzwischen aus Russland, eine Verdopplung seit 2021.
Trotz ihrer erklärten Ziele subventioniert die Regierung weiterhin Kohle. Ein Kohleausstieg wurde bisher nicht angekündigt. Im Gegenteil: Der langfristige nationale Energieplan sieht eine Erhöhung der Kohlekapazität um 2,5 GW in den nächsten zwölf Jahren vor.
- Erdgas: Die Türkei sucht zudem nach weiteren Erdgas-Vorkommen. Erdgas macht ein Viertel des Energiemixes des Landes aus und wird aus verschiedenen Ländern bezogen, allen voran aus Russland. Im Vorfeld der Wahlen kündigte Erdoğan einen großen Fund auf dem Sakarya-Gasfeld im Schwarzen Meer an und versprach, ein Jahr lang „kostenloses Gas“ an die Haushalte zu liefern.
Während seiner Regierungszeit erwarb die Türkei vier Bohrschiffe, die alle nach osmanischen Sultanen benannt sind. Man beabsichtigt, die Suche nach Gas-Vorkommen sowohl im Schwarzen Meer als auch im östlichen Mittelmeer fortzusetzen.
Stichwahl Türkei: Pläne für AKWs und Solar-Ausbau
- Kernenergie: Die Atomkraft ist in der türkischen Öffentlichkeit besonders unbeliebt: Rund 77 Prozent sind gegen den Bau von Kernkraftwerken. Dennoch wurde das erste Atomkraftwerk des Landes namens Akkuyu in der südlichen Küstenprovinz Mersin gebaut, und vor den Wahlen fand eine „Eröffnungsfeier“ statt – obwohl das Kraftwerk erst in einigen Monaten in Betrieb gehen wird.
Neben Fragen der Sicherheit ist eine der Hauptsorgen im Zusammenhang mit der Akkuyu-Atomanlage die weitere Energieabhängigkeit von Russland. Die 20 Milliarden US-Dollar teure Anlage wird von der russischen Rosatom gebaut und befindet sich in deren Besitz. Die AKP plant den Bau eines zweiten Kernkraftwerks in der Schwarzmeerprovinz Sinop.
- Solarenergie: Das Solarpotenzial der Türkei bleibt mit einem Anteil von 4,7 Prozent an der Stromerzeugung weitgehend ungenutzt – hauptsächlich aufgrund staatlicher Hindernisse. Das könnte sich in den kommenden Jahren ändern, denn der nationale Energieplan sieht eine Verfünffachung der Solarkapazität vor.
Mangelhafter Klimaplan der AKP
Nach der Ratifizierung des Pariser Klima-Abkommens im Jahr 2021 kündigte die Türkei auf der COP27 ein aktualisiertes NDC. Es gab Kritik, dass es nicht auf eine absolute Senkung der aktuellen Emissionswerte abzielt, sondern einen Anstieg der Emissionen um 30 Prozent bis 2030 zulässt. Erst 2038 sollen die türkischen Emissionen ihren Höhepunkt erreichen.
Die AKP kündigte auch ein Netto-Null-Ziel für 2053 an, aber die Präzision dieses Datums ist eher dem Willen der AKP zu verdanken, den 600. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels zu würdigen, als einer sorgfältigen Planung. Das Fehlen eines ernsthaften Fahrplans, wie die Türkei ihre Ziele erreichen will, in Verbindung mit der fortgesetzten Unterstützung der AKP für fossile Brennstoffe, wirft die Frage auf, wie ernst es der Partei mit dem Klimawandel ist. (Von Selin Ugurtas)