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Zukunft ohne Erdogan nach Türkei-Wahl? „Kein Wandel zur Demokratie“

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Von: Yağmur Ekim Çay

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Sanliurfa, Ende April: Die meisten Wahlplakate versprechen viel.
Sanliurfa, Ende April: Die meisten Wahlplakate versprechen viel. © AFP

Der Politikwissenschaftler Mahir Tokatli spricht im FR-Interview über die Zukunft der Türkei ohne Erdogan. Er glaubt an Kurskorrekturen, aber nicht an eine Revolution.

Herr Tokatli, wie ist der Wahlkampf in der Türkei gelaufen?

In der Türkei war der Wahlkampf innenpolitisch wie erwartet. Die Regierungspartei hat die Opposition angegriffen. Im Gegensatz zu vorherigen Wahlkämpfen fehlte die Aggressivität in der Außenpolitik. Bei den letzten Wahlen ist Erdogan außenpolitisch sehr stark in die Offensive gegangen. Dafür gab es innenpolitische Angriffe gegen Kandidatinnen und Kandidaten sowie gegenüber marginalisierten Gruppierungen, beispielsweise LGBTQ-Gruppen. Ekrem Imamoglu wurde während einer Kundgebung attackiert, von Personen die Rückendeckung von der Regierung genießen, so dass erneut eine starke Betonung auf „Kampf“ im Wahlkampf war im Vergleich zu demokratischen Ländern.

Warum, glauben Sie, war Erdogan weniger außenpolitisch interessiert?

In den letzten 21 Jahren hat er seinen außenpolitischen Kurs häufig verändert, und gerade in den letzten Wahlkämpfen, also vor allem 2015, aber auch 2017 und 2018 hat er innenpolitische Krisen geschickt durch außenpolitische Auftritte entschärfen können. Heute sind die innenpolitischen Krisen vielfältiger – wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich – und nach dem Erdbeben sowie dem mangelhaften Krisenmanagement auch gravierender. Dementsprechend musste er sich auf die Innenpolitik konzentrieren. Das heißt: Weil die innenpolitischen Krisen so gewaltig sind, wären außenpolitische Auftritte verpufft, denn die Ablenkungstaktik zieht nicht mehr.

Welche Rolle hat das Erdbeben gespielt? Viele haben gedacht, dass er jetzt deshalb abgewählt werden könnte, wie nach dem Erdbeben im 1999.

Das stand weder für die Regierung noch für die Opposition im Mittelpunkt. Die Opposition hat es nicht geschafft, nachhaltig Kapital aus dem Regierungsversagen zu schlagen. Das ist aber auch schwierig, da dies ein sehr sensibles Thema ist. Anders als 1999 muss man sagen, dass zwischen den Wahlen und dem Erdbeben heute nur einige Monate liegen, während zwischen dem Erdbeben und den Wahlen damals drei Jahre lagen. 2002 war nicht das Erdbeben im Fokus, sondern das Regierungsversagen danach. In dieser Spanne von drei Jahren kann man einfacher Wahlkampf machen, als wenn das gerade einmal drei Monate her ist. Deswegen spielte es keine große Rolle. Allerdings glaube ich, dass das Erdbeben und das Krisenmanagement doch eine Rolle bei der Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger spielt, denn letztlich ist in der Türkei eigentlich fast jeder von Erdbeben potenziell bedroht.

Was erwartet uns am Sonntag? Wird Erdogan verlieren?

Es spricht nicht viel für Erdogan, aber bei Wahlen weiß man erstens nie, was letzten Endes herauskommt, zweitens weiß man bei autokratischen Systemen nie, wie stark die Wahlergebnisse seitens der Regierung beeinflusst werden. Es gibt eine große Asymmetrie bei den Bedingungen. Zusätzlich hat die Regierung mit dem Hohen Wahlrat, die letztinstanzlich entscheiden kann, eine Möglichkeit, die Wahl zu manipulieren, indem sie das Ergebnis zu ihren Gunsten dreht. Bestes Beispiel ist dafür das Verfassungsreferendum 2017, als ersichtlich wurde, wie der Hohe Wahlrat entscheidenden Einfluss ausüben kann. Ginge es mit fairen und freien Bedingungen zu, wäre er spätestens am 14. Mai abgewählt.

Mahir Tokatli studierte von 2006 bis 2009 an der Uni Bonn. Heute lehrt er dort.
Mahir Tokatli studierte von 2006 bis 2009 an der Uni Bonn. Heute ist er ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen mit dem Schwerpunkt Politische Systeme. © privat

Was kann passieren, wenn Erdogan verliert?

Die Frage ist dann, ob er friedlich Platz schafft und geht. Das kann man schwer beantworten, aber die Beispiele Trump und Bolsonaro kommen in den Sinn. Falls er nicht friedlich geht, wäre die Frage, wie gewalttätig es wird. Das Potenzial, dass seine Anhänger auf den Straßen gewaltsam protestieren – mit Unterstützung der Polizei – ist vorhanden und hoch. Vieles hängt davon ab, wie stark die Opposition abschneidet. Wird es eine klare Niederlage, dann ist zu hoffen, dass er den Ausgang akzeptiert, zumindest aber das Land verlässt und es nicht zu einer Gewalteskalation kommt.

Kılıçdaroğlu wird in der Türkei als Hoffnung gesehen. Ist dem so?

Das kommt darauf an, wie man Hoffnung definiert. Wenn die Hoffnung darin besteht, Erdogan zu ersetzen, dann ist Kılıçdaroğlu tatsächlich eine Hoffnung, weil eine so breite Unterstützung – auch bei den Umfragewerten – es bislang gegen Erdogan nicht gab. Aber ich halte ihn – anders als einige Kolleginnen und Kollegen – nicht für einen demokratischen Hoffnungsträger. Er hat ein Bündnis geschmiedet mit der Abspaltung einer rechtsextremen Partei, der Iyi. Die anderen beiden Parteien, mit denen er kooperiert, sind Abspaltungen der AKP. Diese bunte Koalition kommt ohne progressive Kräfte aus. Die Akteure sind entweder rechtsextrem islamistisch oder waren mal regierungsnah. Zwar wird die CHP international als sozialdemokratisch bezeichnet, aber sie ist weder sozialdemokratisch noch links der Mitte. Sie ist eine staatsloyale Zentrumspartei. Mit Kılıçdaroğlu wird kein Wandel zu einer Demokratie einsetzen, aber die Türkei wird sich liberalisieren. Für eine Demokratisierung bedarf es einer neuen Verfassung und dafür werden ihm schlicht die parlamentarischen Mehrheiten fehlen.

Interview:Yagmur Ekim Çay

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