Nach Türkei-Wahl: CHP will „Migrationsabkommen zwischen EU und Türkei neu verhandeln“
Noch bis Mittwochabend dürfen die Türkinnen und Türken, die im Ausland leben, wählen. Der Ausgang der Wahl hat direkte Konsequenzen für Deutschland.
Berlin - Präsident Recep Erdogan geht als Favorit für die zweite Runde der Präsidentschaftswahl in die Abstimmung. In der ersten Runde am 14. Mai lag er etwa 4,5 Prozentpunkte vor Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der CHP, verpasste aber die notwendige absolute Mehrheit in der Türkei-Wahl. Türken im Ausland stimmten mit 57,70 Prozent mehrheitlich für den Amtsinhaber. Kilicdaroglu kam auf knapp 40 Prozent der Stimmen. In Deutschland waren es vorläufigen Zahlen zufolge 65 Prozent der Stimmen für Erdogan. Im Interview mit IPPEN.MEDIA erklärt der frühere Vorsitzende der CHP-Jugendorganisation in Istanbul und enge Vertraute von Kilicdaroglu , Selçuk Sarıyar, was sich nach der Wahl ändern könnte.
In den Umfragen vor der Wahl lag Ihr Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu deutlich vor Präsident Recep Erdogan. Wie erklären Sie sich den Umschwung in der ersten Runde der Wahlen?
Die ständigen Vorwürfe der derzeitigen Regierung gegenüber der Opposition, dass sie Terroristen sind und mit Terroristen gemeinsame Sache machen, hat die Wähler besonders in Anatolien verunsichert. Gerade in den ländlichen Gebieten hat die negative Propaganda der Regierung leider ein Echo gefunden. Und etwa 4,7 Millionen Haushalte in unserem Land beziehen Sozialhilfe. Das entspricht etwa 17 Millionen Menschen, also mehr als 10 Millionen Wählern. Sie glauben, dass ihnen diese Hilfe entzogen wird, wenn die Regierung wechselt. Diese Angst schürt Recep Erdogan. Dabei ist die Angst unbegründet. In Istanbul, das von der CHP reagiert wird, sehen wir, dass die sozialen Hilfen und Dienstleistungen dort in den letzten 4 Jahren um ein Vielfaches gestiegen sind.
Nach der ersten Wahl wurden Vorwürfe laut, dass die Wahlen manipuliert wurden. Was ist Ihr Eindruck? Wie soll das bei der Stichwahl verhindert werden?
Freie Wahlen sind keine fairen Wahlen. In einem Land, in dem es bereits von einer Person abhängige Medien, Justiz, Exekutive und Legislative gibt, werden die Stimmen, die in die Wahlurne gehen, niemals auf die gleiche Weise aus der Wahlurne herauskommen. In der zweiten Runde wird die CHP Beamte und Beobachter in allen Wahllokalen haben und darauf achten, dass das System korrekt verwaltet wird. Und ich glaube, auch wenn es wieder eine unfaire Wahl geben wird, wird das Volk dieses Mal Kılıçdaroğlu zum Präsidenten wählen.
In keinem anderen europäischen Land haben die Auslandstürkinnen und Türken so stark für Erdogan gestimmt wie in Deutschland. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Wenn wir die Präsidentschaftswahlen 2018 mit den Wahlen 2023 vergleichen, sehen wir, dass Erdoğan einen Verlust an ausländischen Stimmen erlitten hat. Trotzdem sind die Stimmen für Erdoğan allein in Deutschland höher als die Stimmen für Herrn Kılıçdaroğlu in anderen EU-Ländern. Während unsere Bürger mit deutschem Pass in Deutschland die SPD wählen, geben sie in unserem Land leider der AKP ihre Stimme. Dabei hat die Politik der AKP in den letzten Jahren für unsere im Ausland lebenden Bürger die Situation verschlechtert. Das automatische Informationsaustauschsystem verursacht aufgrund der Inkompetenz der Regierung viele Probleme. Außerdem gibt es Probleme, Fahrzeuge aus dem Ausland mitzubringen. Exorbitante Preise für Flugtickets sind ein weiteres Problem. All diese Schwierigkeiten begannen während der AKP-Ära. Die bilateralen Beziehungen unseres Landes mit anderen Ländern haben sich verschlechtert - das hat direkt Auswirkungen auf die Türkinnen und Türken, die im Ausland leben.
Was erwarten Sie für ein Ergebnis nach der Stichwahl?
Im zweiten Wahlgang wird das türkische Volk, das ein Gleichgewicht zwischen Parlament und Präsidentschaft will, Kılıçdaroğlu zum Präsidenten wählen. Nach der Wahl wird sich Recep Erdoğan zurückziehen und mehr Zeit mit seinen Enkelkindern verbringen.
Was würde sich mit einem Präsidenten Kılıçdaroğlu ändern? Und wie würde sich das Verhältnis zu Deutschland ändern?
Leider ist die Frage der Flüchtlinge und Einwanderer zu einem sehr großen Problem in unserem Land geworden. Die einzige Kraft, die dieses Problem im Rahmen des internationalen Rechts lösen kann, ist ein sozialdemokratischer Führer. Dieser Führer ist auch Kılıçdaroğlu. Offiziell gibt es 3,6 Millionen Einwanderer in unserem Land. Inoffizielle Zahlen besagen, dass es mehr als 10 Millionen sind. Wir werden nach der Wahl das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei neu verhandeln.
Wenn Kılıçdaroğlu gewinnt, werden Recht und Gerechtigkeit in unserem Land Einzug halten. Junge Menschen werden in einem freieren und friedlicheren Land leben. Ausländischen Investoren mit einem einen Wert von etwa 150 Milliarden Dollar, die unser Land in den letzten 10 Jahren verlassen haben, stehen Schlange, um in einer verlässlichen Türkei zu investieren. Infolgedessen werden Armut und Hunger in unserem Land ein Ende haben und unsere Wirtschaft wird sich rasch erholen.
Wie sehen Sie die Rolle der Türkei in der Region?
Die Türkei muss mit ihrer Demokratie ein Vorbild für die Länder in der Region sein. Das ist nicht nur für die Türkei und die Länder der Region, sondern auch für Europa und die Welt wichtig. Natürlich wollen wir auch unsere Beziehungen zu Deutschland stärken, mit dem wir in fast allen Epochen der Geschichte gute bilaterale Beziehungen unterhalten haben. Deutschland ist sowohl für unsere dort lebenden Bürger als auch für unsere soziokulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen wichtig. Ein gesünderes Verhältnis zu Deutschland wird auch einen großen Beitrag sowohl für die Türkei als auch für Deutschland und ganz Europa leisten.
Zur Person
Der frühere Vorsitzende der CHP-Jugendorganisation in Istanbul, Selçuk Sarıyar, ist heute Vizebürgermeister der Millionenmetropole. Er berät Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu in Auswärtigen Angelegenheiten und begleitete den CHP-Vorsitzenden auch bei seinem Besuch bei dem deutsch-türkischen KI-Papst Prof. Dr. Sahin Albayrak am Zentrum für Erlebbare Künstliche Intelligenz (ZEKI) an der TU Berlin im Dezember 2022.
