„Wir sind vorne“, verkündet allerdings am Abend Kilicdaroglu. Mehr sagt er nicht. Auch der Bürgermeister von Istanbul Ekrem Imamoglu und sein Amtskollege in Ankara, Mansur Yavas, beide gehören der CHP an, beklagen, dass staatliche Medien falsche Zahlen meldeten. Die offiziellen Ergebnisse, die der CHP vorlägen, sähen anders aus als die von AA veröffentlcihten. „Wir haben kein Vertrauen in die Anadolu. Bei den Wahlen im Juni 2015 hatte Erdogan laut Anadolu aus irgendeinem Grund 65 Prozent, diese Wahl endete mit 40 Prozent für ihn“, sagt Imamoglu „In Anbetracht dieser Ergebnisse denken wir, dass Herr Kilicdaroglu heute Abend unser 13. Präsident sein wird.“ Auch Yavas zeigt sich hoffnugsvoll:„Nach den uns vorliegenden Ergebnissen liegt Herr Präsident Kemal Kilicdaroglu. vorn.“ Doch sowohl in CHP- als auch in AKP-Kreisen geht man von einer Stichwahl aus.
Die Wahl selbst lief ohne größeren Zwischenfälle ab, aber nicht ohne einzelne Unreglmäßigkeiten.Schicksalswahl – so wurden die bezeichnet. „Ich habe die ganze Zeit geweint, als ich wählen gegangen bin. Ich war in meinem Leben noch nie so aufgeregt. Dieses Mal wird Erdogan verlieren“, sagt Ülkü Akinci (Name geändert, der Redaktion bekannt). Die 56-Jährige stand bereits um sieben Uhr morgens vor ihrem Wahllokal in Izmir, zusammen mit mehreren anderen, denn „schlafen konnte man nicht“ – vor lauter Aufregung. Akinci ist nicht die Einzige, die an diesem Tag in der Türkei aufgeregt ist. Den ganzen Tag über berichten das mehrere Kilicdaroglu-Unterstützer:innen auf Twitter. Laut dem türkischen Nachrichtensender Habertürk kommen sogar vier Menschen in den Wahllokalen in Rize und Giresun an Herzinfarkten zu Tode.
Gemeldet wurden auch Wahlfälschungen, doch sind die Fälle deutlich geringer als sonst, da die Opposition und Zivilgesellschaft anscheinend gut vorbereitet sind. In den sozialen Medien kursierten Videos aus dem östlichen Sanliurfa, die zeigen, wie eine Person in einem Wahllokal Dutzende von Stimmen für Erdogan abstempelt. „Zuerst wurden unsere Mitglieder im Wahllokal geschlagen, danach entstanden diese Videos. Unsere Anwälte wurden in das entsprechende Dorf verwiesen, und es wurde Einspruch beim Bezirkswahlausschuss eingelegt“, berichtet der CHP-Abgeordnete Oguz Kaan Salici.
Auch von körperlichen Auseinandersetzungen zwischen AKP-Anhänger:innen und Oppositionellen wurde unter anderem in Konya, Sirnak und Istanbul berichtet, als AKP-Wahlbeobachter versuchten, mit Wähler:innen die Wahlkabine zu betreten. „In Istanbul wurde der Vorsitz eines Wahlausschusses gestrichen, weil er versucht hat, für einen anderen Wähler abzustimmen“, berichtet Canan Kaftancioglu, Istanbuler Vorsitzende der CHP. Nach ihren Angaben lag die Wahlbeteiligung in Istanbul bei mehr als 90 Prozent.
Die türkische Journalistin Buse Sögütlü beobachtete eine ähnliche Situation in der Hauptstadt Ankara. Hier seien die Wahlen dank der intensiven Bemühungen der Wahlbeobachter:innen im Vergleich zu anderen Jahren ruhiger gelaufen. „In verschiedenen Wahllokalen in Ankara wurden vor allem Wahlbeobachter daran gehindert, den Wahlvorgang zu beobachten. Die meisten dieser Behinderungen wurden aber durch das Eingreifen von Bürgerinnen und Bürgern verhindert, die darauf bestanden, die Sicherheit in den Wahllokalen zu gewährleisten“, sagte die Journalistin zur FR.
Auch eine deutsche Delegation beobachtete im Auftrag des Europarats die Wahlen. „In Diyarbakir empfinde ich die Stimmung am Wochenende als friedlich und hoffnungsvoll. Ob sich dieser Eindruck im Bericht am Montag widerspiegelt, wird abzuwarten sein“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Max Lucks der FR. Als Mitglied der Wahlbeobachtungsmission des Europarats sei es ihm wichtig gewesen, auch in kurdischen Regionen der Türkei Präsenz zu zeigen.
Die Sorge um die Wahlsicherheit war im Erdbebengebiet am stärksten. Die genaue Zahl der Todesopfer ist nach wie vor nicht bekannt. Zivilgesellschaft und Opposition befürchteten, dass die Situation für gefälschte Wahlstimmen ausgenutzt werde. „Die Menschen hier im Dorf haben gemerkt, dass die Person, die gerade zum Wählen gekommen ist, nicht die Person ist, die sie angegeben hat“, berichtet eine Wahlbeobachterin in Hatay – eine der am stärksten vom Erdbeben betroffenen Städte. Auch am Wahltag herrschte dort Trauer. „Die Menschen kommen weinend zur Wahl. Wenn sie im Wahllokal sehen, dass ihr Nachbar noch lebt, umarmen sie sich. Sie weinen auch, wenn sie den Umschlag in die Wahlurne werfen“, berichtet der Student Yigit Göktug aus Antakya. Seine Mutter starb bei dem Erdbeben.
„Ich gedenke meiner Mutter, indem ich gegen diejenigen wähle, die sie von mir getrennt haben, und gegen diejenigen, die keine Hilfe geschickt haben. Wir weinen seit mindestens drei Monaten, lasst uns eine Belohnung für unseren Schmerz an der Wahlurne bekommen“, berichtet er auf Twitter.
Die Kontrahenten Kemal Kilicdaroglu und Recep Tayyip Erdogan gaben am Sonntag ebenfalls ihre Stimmen ab. „Wir haben die Demokratie so sehr vermisst. Von nun an wird der Frühling in dieses Land kommen“, sagt Kilicdaroglu. Erdogan sagte in Ankara: „Wir hoffen auf eine gute Zukunft für die türkische Demokratie.“