Türkei-Wahl 2023: Wird Ex-Oppositionskandidat Muharrem Ince zum Zünglein an der Waage?

Die türkische Opposition könnte Erdogan nach 21 Jahren tatsächlich schlagen. Doch ausgerechnet dem Ex-Oppositionskandidaten Ince wird vorgeworfen, Erdogan in die Hände zu spielen.
München – Recep Tayyip Erdogans Kandidatur für die kritische Türkei-Wahl 2023 stand schon vor Monaten fest. In seinem „Volksbündnis“ gab es schließlich niemanden, der der Kandidatur des 69-Jährigen widersprechen würde. Beim oppositionellen „Nationsbündnis“ aus sechs Parteien lief es hingegen etwas holprig, doch am Ende hieß der Kandidat Kemal Kilicdaroglu, der 74-jährige Chef der größten Oppositionspartei CHP. Ihm werden gute Chancen eingeräumt, Erdogan zu schlagen. Doch ausgerechnet ein ehemaliger Politiker seiner Partei könnte einen Oppositionssieg in der ersten Runde der Wahl verhindern: Muharrem Ince.
Türkei-Wahl 2023: Ince verlor 2018 gegen Erdogan und tauchte ab
Über Ince wird in den letzten Wochen in der Türkei hitzig debattiert. Zusammen mit dem 55-jährigen Nationalisten Sinan Ogan ist der 59-jährige Vorsitzende der Memleket-Partei (zu Deutsch: Vaterlandspartei) ebenfalls Kandidat bei der Wahl am 14. Mai. In der türkischen Politik ist Ince aber kein neuer Name. Jahre lang saß er für die Republikanische Volkspartei (CHP) im Parlament und erreichte 2018 einen Höhepunkt in seiner Karriere: Er wurde zum Kandidaten seiner Partei bei der Präsidentschaftswahl und trat gegen Erdogan an. Doch er steckte eine Niederlage ein.
Als Wähler und auch einige Vertreter der Opposition von Wahlbetrug sprachen, schickte er einem Journalisten eine kurze Nachricht: „Der Typ (Erdogan, Anm. d. Red.) hat gewonnen.“ Zudem hieß es, er sei am Abend des Wahltages plötzlich verschwunden. In den sozialen Medien wurde spekuliert, er sei vielleicht von der Regierung entführt worden. Darauf antwortete er mit harten Worten und nannte seine eigenen Wähler, die dies behaupteten, „Schizophrene“. All das führte dazu, dass er mehr und mehr an Gunst bei oppositionellen Wählern verlor. Eigentlich galt er nach den 2018-Wahlen nicht mehr als relevanter Akteur. Als die 2023-Wahlen immer näher rückten, sollte sich das aber ändern.
Türkei-Wahl 2023: Ex-Oppositionskandidat Ince könnte Ausgang der Wahl beeinflussen
Ince ist jetzt nahezu in aller Munde – sowohl bei der Regierung als auch bei der Opposition. Dabei wurde ihm nicht viel Beachtung geschenkt, als er drei Jahre nach seiner Wahlniederlage gegen Erdogan, im Jahr 2021 die Memleket-Partei gründete. Doch in den letzten Monaten verschaffte er sich mit öffentlichen Auftritten und der Teilnahme an politischen Talkshows in mehreren Sendern gehörig Aufmerksamkeit. Der nationalistische Ince, der sich auf der Linie des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk sieht, sich ein „Kind Atatürks“ nennt und eigenen Angaben zufolge von Terrororganisationen distanziert, nimmt kein Blatt vor den Mund. In seinen Reden kritisiert er sowohl die Regierung Erdogans als auch den oppositionellen „Sechser-Tisch“.
Wegen seiner offenen Art und deutlichen Aussagen wurde er plötzlich besonders unter der jungen Generation äußerst populär. Denn er bietet eine Alternative für diejenigen, die zwar ein Ende der Erdogan-Ära sehen wollen, aber zugleich aus verschiedenen Gründen nicht für die Opposition unter Kilicdaroglu stimmen wollen. Seine Partei sieht sich als „dritten Weg“, was auch aus ihren Wahlslogans herauszulesen ist. „Weder Volk noch Nation, der einzige Weg ist das Vaterland“, heißt es.
Türkei-Wahl 2023: Angespanntes Verhältnis zwischen Ince und Kilicdaroglu-Lager
„Es kann weder mit dieser Regierung noch mit dieser Opposition weitergehen“, sagt Ince immer wieder. Sein Ziel sei es, so der Memleket-Vorsitzende, zusammen mit Erdogan auch die aktuelle Opposition abzusetzen. Das verschärft das Verhältnis zwischen ihm und der Opposition des Kandidaten Kilicdaroglu. Bei den Anhängern des CHP-Chefs kommen diese Äußerungen nicht gut an. Sie werfen Ince vor, „Opposition gegen die Opposition“ zu betreiben und somit den Zusammenhalt gegen Staatschef Erdogan zu schwächen.
Ince hat sich allein damit, dass er dem Bündnis von Kilicdaroglu nicht beigetreten ist, ohnehin zur Zielscheibe gemacht. Viele Oppositionswähler konnten sich das nicht erklären. Der Memleket-Vorsitzende jedoch schon: Er widerspricht der Mitwirkung von zwei ehemaligen Erdogan-Ministern, Ahmet Davutoglu und Ali Babacan, am Bündnis. Davutoglu, der Vorsitzende der Gelecek-Partei (zu Deutsch: Zukunftspartei), hatte als Außenminister unter Erdogan gedient. Babacan, Chef der DEVA-Partei, war als Wirtschaftsminister tätig. Ince will auch sie wegen ihrer Taten gemeinsam mit Erdogan zur Rechenschaft ziehen.
Zuletzt rief er Kilicdaroglu dazu auf, Davutoglu und Babacan aus dem Bündnis zu entfernen. Dies sei seine einzige Bedingung, um Kilicdaroglu zu unterstützen. „Werft sie einfach zur Seite, dann werde ich euch unterstützen, ich will kein Amt, kein Ministerposten, keine Stelle als Vize-Präsident, nichts“, lautete sein Appell an seinen ehemaligen Parteichef Kilicdaroglu. Davutoglu bezeichnete ihn daraufhin als „armselig“ und warf ihm vor, bei „politischer Unhöflichkeit“ gleichauf mit Erdogan zu sein. „Er lernt von ihm“, so der Gelecek-Chef.
Türkei-Wahl 2023: Muharrem Ince und seine Memleket-Partei
Monatelang rief die CHP Ince dazu auf, sich aus der Wahl zurückzuziehen und Kilicdaroglu zu unterstützen. Doch auch ein persönliches Treffen zwischen den beiden Politikern blieb ohne Erfolg. Falls sich kurz vor den Wahlen keine Überraschung ereignet und der Memleket-Vorsitzende Kandidat bleibt, dann könnte er zum Zünglein an der Waage werden, und das ganz klar zum Nachteil der Opposition und Kilicdaroglu.
Ein Blick auf die Wählerbasis von Ince zeigt, dass ohnehin die wenigsten dazu neigen, bei den Wahlen für Erdogan zu stimmen. Das bedeutet, dass Ince in erster Linie Wähler von Kilicdaroglu anzieht, die den CHP-Chef nur widerwillig und aus Not gegen Erdogan wählen. Dies könnte Kilicdaroglu, der die Präsidentschaftswahl schon in der ersten Runde gewinnen will, einen Strich durch die Rechnung machen. Ince wird also vorgeworfen, mit seiner Kandidatur zu verhindern, dass Kilicdaroglu schon in der ersten Runde über 50 Prozent der Stimmen erhält. „Er spaltet die Opposition“, heißt es ständig. Der Memleket-Chef wird teilweise sogar als „Mann des Palastes“ beschimpft.
Zuvor war sich Ince relativ sicher, dass er es in die zweite Runde der Wahl schaffen wird. „Ich werde dann mit 60 Prozent der Stimmen gewählt werden“, unterstrich er in einer Sendung. Inzwischen hat er diese Behauptungen jedenfalls großteils zurückgenommen und gibt sich etwas bescheidener. Erdogan und Kilicdaroglu liefern sich ein enges Rennen: Wie viele Stimmen Ince an sich reißen wird, könnte somit das Schicksal der Wahl bestimmen.
Mit Blick auf einen möglichen zweiten Wahlgang zwischen den zwei Spitzenkandidaten wurde Ince von Journalisten bereits mehrmals die Frage gestellt, wen er denn unterstützen wurde. „Wir werden tun, was nötig ist. Natürlich sollte Erdogan gehen“, so Ince in einer Fernsehsendung. Allerdings bemängelte er auch das hohe Alter von Kilicdaroglu, sollte der Oppositionskandidat gewählt werden. Auf die Frage liefert er ohnehin oft nur ausweichende Antworten. Ince mag zwar keineswegs ein Favorit sein, doch er und seine Partei werden das Ergebnis am 14. Mai zweifelsohne maßgeblich beeinflussen. Hier lesen Sie die aktuellen Umfragen zur Türkei-Wahl. (bb)