Nach Bekenntnis: Erdogan-Gegner Kilicdaroglu erntet Kritik von Aleviten – „Gift der Diskriminierung“

„Ich bin Alevit“, bekennt sich Erdogans Gegner Kilicdaroglu in einem Video. Es ging viral, sorgte aber für scharfe Kritik auch von Aleviten selbst.
Frankfurt – Kemal Kilicdaroglu ist Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP und Kandidat des Oppositionsbündnisses bei der anstehenden Türkei-Wahl 2023 am 14. Mai. Er will Staatschef Recep Tayyip Erdogan nach 20 Jahren an der Macht schlagen. Ein Video, das er auf Twitter veröffentlichte, ging nun viral. Es trägt den Titel „Alevit“. Darin bekennt sich Kilicdaroglu: „Ich bin Alevit.“ Dabei handelt es sich um eine alternative, religiöse Strömung innerhalb des Islam. Das Video wird innerhalb weniger Stunden Millionen Mal aufgerufen und besonders bei Unterstützern der Opposition positiv wahrgenommen. Es gibt aber auch Kritik: Vom Regierungslager und auch von Aleviten selbst.
Video von Kilicdaroglu: Alevitischer Vereinigungschef äußert Kritik
Kilicdaroglu bekräftigt immer wieder, alle Ethnien und religiösen Zugehörigkeiten in der Türkei seien ihm willkommen. Sollte er die Wahl gewinnen, werde er eine Regierung schaffen, die alle Bürger „umarmen“ werde, versichert der Erdogan-Gegner. Dass jetzt ausgerechnet er im Wahlkampf plötzlich auf seine eigene religiöse Einstellung aufmerksam macht, mag zwar gut gemeint sein. Doch nicht alle Aleviten zeigten sich fasziniert davon. Rufe, die ihm „Diskriminierung“ und „Spaltung“ vorwerfen, wurden laut.
Der Chef der Alevitischen Vereinigung Anatoliens, Emrah Uslu, kritisierte den CHP-Chef und Präsidentschaftskandidaten auf Twitter. „Mit Personen, die sich in eine alevitische Identität einhüllen, versuchen sie eine Spaltung zwischen Aleviten und Sunniten zu erreichen“, schrieb Uslu, der - wie aus seinem Twitter-Profil besonders stark ersichtlich wird - Erdogan und seine islamisch-konservative AKP unterstützt.
Der Vereinigungschef warf Kilicdaroglu außerdem vor, mit der Gülen-Sekte zu kooperieren. In der Türkei gilt die Gruppe von Fetullah Gülen, der angibt, ein islamischer Prediger zu sein, als terroristische Organisation und wird FETÖ (Fetullah‘sche Terrororganisation) genannt. Erdogans Regierung macht die Sekte für den gescheiterten Putschversuch von 2016 verantwortlich. Nun betonte Uslu, die Gülen-Gruppe habe Aleviten „der größten Unterdrückung“ ausgesetzt und sie diskriminiert.
Erdogan-Gegner Kilicdaroglu bekennt sich als Alevit: Kritik der „Diskriminierung“ folgt
Esma Ersin, die frühere stellvertretende Chefin der alevitischen Cem-Stiftung, die nun für die AKP als Abgeordnete kandidiert, äußerte auch Kritik an Kilicdaroglu. Sie warf dem Oppositionschef vor, sich in all den Jahren seiner politischen Karriere im Parlament nicht für Aleviten engagiert zu haben. Erst als er Präsidentschaftskandidat wurde, sei im eingefallen, dass er Alevit sei, kritisierte sie. Ersin will sich im türkischen Parlament für die Rechte der Aleviten einsetzen, sollte sie gewählt werden. Dabei vertraut sie offenbar der Vergangenheit von Erdogans Partei: Die AKP hatte Bemühungen für eine sogenannte „Öffnung“ gegenüber Aleviten eingeleitet.
Laut der Journalistin und Politikexpertin Selva Tor ist es gefährlich, eine religiöse Trennlinie auch nur zu erwähnen. „Zwischen türkischen Staatsbürgern gibt es keine Unterscheidung hinsichtlich Ethnie, Religion oder Sekte“, schrieb sie auf Twitter und beschuldigte Kilicdaroglu, er würde das „Gift der Diskriminierung“ verbreiten. Schließlich könne jede Person jede Aufgabe im Staat, etwa im Militär oder Geheimdienst, übernehmen, so Tor.
Erdogan-Vertraute attackieren Kilicdaroglu: „Die größte Gefahr“
Erdogans engerer Kreis zeigte sich ebenfalls empört über den plötzlichen Vorstoß von Kilicdaroglu. Der Präsidentenberater Mustafa Akis schrieb auf Twitter: „Die Debatte zur Präsidentschaft läuft nicht über Identitätspolitik.“ Es gehe in der Diskussion lediglich darum, wer die bessere Eignung als Staatsoberhaupt habe. Der nationalistische AKP-Verbündete und MHP-Chef Devlet Bahceli schloss sich der Kritik an. Kilicdaroglu berühre „ethnische und religiöse Empfindlichkeiten auf gefährliche Art und Weise“.
„In der Politik werden Aspekte des Glaubens und der Religion nicht in den Vordergrund gestellt“, sagte Önder Aksakal, Chef der Demokratischen Linkspartei DSP, im Sender CNN Türk. Aksakal unterstützt bei den Wahlen das Bündnis von Erdogan. Der DSP-Chef kritisierte, Kilicdaroglu nutze den Glauben, um das Land zu spalten. Dies sei „die größte Gefahr“. Ein Kandidat solle nicht mit seiner ethnischen oder religiösen Identität für Stimmen werben, betonte er.
Oppositionslager diskutierte bereits über Kilicdaroglus Identität: „Problem für türkische Politik“
Über das Alevitentum hatte es zuvor schon im Oppositionslager eine heikle Debatte gegeben. Aussagen von Ahmet Şık, einem Journalisten und Abgeordneten der Türkischen Arbeiterpartei TIP, hatten in diesem Zusammenhang für Diskussionen gesorgt. „Dass Kilicdaroglu Alevit ist“, sei ein „Problem für die türkische Gesellschaft und Politik“. Dies müsse der CHP-Chef wissen und sich auch danach richten. Denn das, so Şık, könne der Regierung von Erdogan eventuell Material im Wahlkampf schenken. Der TIP-Abgeordnete musste sich später dafür entschuldigen.
Auch der Iyi-Partei-Abgeordnete Ibrahim Halil Oral musste sich entschuldigen, denn auch er hatte Kilicdaroglus religiöse Zugehörigkeit kommentiert und angedeutet, dass dies dem Oppositionsbündnis die Niederlage kosten könnte. Da er Alevit sei, sei Kilicdaroglu eventuell nicht der richtige Kandidat, hatte der Politiker gesagt. Iyi-Partei ist die zweitgrößte Partei im Anti-Erdogan-Bündnis der Opposition und pflegt aktuell ein enges Verhältnis zur CHP.
Religiöse Debatten in der Türkei weisen tatsächlich einen gefährlichen Charakter auf. In der Vergangenheit gab es immer wieder schmerzhafte und blutige Ereignisse, die maßgeblich durch religiöse Verwerfungen zwischen Aleviten und Sunniten ausgelöst wurden. Kilicdaroglus Worte lieferten neuen Diskussionsstoff, von dem sicherlich auch Erdogan Gebrauch machen wird. (bb)