Türkei-Wahl: Erdogans schmutzige Tricks in letzter Stunde
Kurz vor Wahlbeginn in der Türkei soll die Opposition offenbar diskreditiert werden. Erdogan und seine Partei beschwören „kurdischen Terror“ und „Putschgefahr“.
Ankara - Kurz vor der Türkei-Wahl 2023 steigt die Spannung im Land, so manche Nerven liegen blank. „Liebe russische Freunde, ihr steckt hinter den manipulierten Videos, Verschwörungen, gefälschten Inhalten und Tonbändern, die gestern in diesem Land aufgedeckt wurden“, schrieb der Kandidat des Oppositionsbündnisses, Kemal Kilicdaroglu, am Donnerstagabend auf Twitter. Moskau solle seine Finger vom türkischen Staat lassen, wenn man sich eine Fortsetzung der russisch-türkischen Freundschaft nach dem Wahltag wünsche. „Wir setzen uns weiterhin für Zusammenarbeit und Freundschaft ein“, mahnt der 74-Jährige.
„Gefälschte Social-Media-Inhalte“ sind im Wahlkampf in der Türkei seit einigen Wochen schon ein Schlagwort. Immer wieder wird vermutet, einige davon kämen aus Russland – zwecks Machterhalt von Erdogan oder zwecks Destabilisierung allgemein. Am Donnerstag zog einer der vier Kandidierenden um die Präsidentschaft, Muharrem Ince, sich zurück – einer der vermeintlichen Gründe dafür sollen angebliche „Sexvideos“ sein, die jüngst online aufgetaucht waren. Ince beteuerte, da sei nichts Wahres dran. Auch kursierten angebliche Bankbelege im Internet, die beweisen sollen, dass Ince Überweisungen von Erdogan-Vertrauten erhalten hat.

Türkei-Wahl 2023: Skandale sind in der türkischen Politik nicht neu
Solche Skandale um vermeintliche „Sexvideos“ sind in der türkischen Politik nicht neu. Der einstige CHP-Vorsitzende und langjährige Minister Deniz Baykal trat 2010 zurück, nachdem solche Inhalte über ihn im Internet veröffentlicht worden waren. Doch diesmal geht es über vermeintlich private Videos hinaus: Am vergangenen Sonntag führte Recep Tayyip Erdogan bei einem Wahlkampfauftritt in Istanbul ein manipuliertes Video vor, das den Kontrahenten Kiliçdaroglu zusammen mit dem Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Murat Karayilan, zeigt.
Er wiederholte dies am Donnerstagabend und ließ das Video live im Fernsehen laufen: „Kiliçdaroglu macht Wahlkampf zusammen mit dem Terroristen“, behauptete Erdogan. Ebenfalls am Donnerstagabend wurden in Istanbul weitere gefälschte Broschüren über Kiliçdaroglu von AKP-nahen Personen verbreitet, bemerkte Bülent Ütebay von der CHP.
Kiliçdaroglu ging damit dann an die Öffentlichkeit: „Ich appelliere an die Jugend. Es gibt jemanden, der schamlos Propaganda mit montierten Inhalten macht.“ Solche Fälschungen bezwecken allerdings mehr als Rücktritte oder Reaktionen in den sozialen Medien. Der Vorwurf, „mit der PKK zu kooperieren“, ist in der Türkei ein hochsensibles Thema. Es führt zu Überreaktionen, wie das Beispiel des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu (CHP) zeigt.
Am vergangenen Sonntag wurde er während seines Wahlkampfauftritts in Erzurum mit Steinen angegriffen, mehrere seiner Unterstützer:innen wurden verletzt – kurz nachdem Erdogan bei einem Wahlkampfauftritt ein offenbar manipuliertes Video mit dem PKK-Führer gezeigt hatte. Die Furcht vor solchen Angriffen hat sich in der Türkei jetzt nochmal verstärkt. Beispielsweise berichtete der Journalist Merdan Yanardag am Freitag, er habe gehört, dass eine Gruppe mit dem Ziel der Ermordung von Kemal Kiliçdaroglu aus Georgien in die Türkei eingereist sei. Solche Behauptungen schaffen Unsicherheit – und Unsicherheit kann Wahlen entscheiden.

Erdogan könnte Niederlage bei Türkei-Wahl 2023 mit dem Vorwurf des „Terrorismus“ ablehnen
Die jüngsten Auftritte Erdogans und seines Innenministers Süleyman Soylu deuten zudem darauf hin, dass sie eine mögliche Wahlniederlage mit dem Vorwurf des „Terrorismus“ ablehnen könnten. „Wenn es sein muss, werden wir, wie in der Nacht des 15. Juli (der Putschversuch 2016, Anm.d.Red.), unsere Freiheit und unsere Zukunft um den Preis unseres Lebens verteidigen“, drohte Erdogan und Soylu behauptete, dass Kiliçdaroglu die PKK direkt an die Urnen bringen und dafür sorgen werde, dass die PKK gewählt wird. „Das ist ein Putschversuch“, warnte der Minister.
Und so ermahnt Kiliçdaroglu allzu freudige Demonstrationen im Falle eines Wahlsiegs am Sonntag zu unterlassen. „Gerüchten zufolge sollen in der Wahlnacht einige Kräfte auf die Straße gehen und Krawalle veranstalten. Solche Gerüchte werden nicht nur an mich, sondern auch an andere führende Politiker weitergetragen“, sagte Kiliçdaroglu. „Wenn wir in der Wahlnacht gewinnen, sollte niemand auf die Straße gehen. Alle sollten zu Hause bleiben. Denn wenn man auf die Straße geht, kann es zu Provokationen kommen.“
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Trotz der „Terrorvorwürfe“ zeigen die jüngsten Umfragen einen deutlichen Trend. Kiliçdaroglu hat gute Chancen auf einen Sieg. Er und sein Team bleiben freundlich, bei seinen Wahlkampfauftritten herrscht weiterhin eine positive Stimmung überall: mit Tanz, Musik und der Hoffnung auf bessere Zeiten. Hunderttausende haben sich bereits organisiert, um als Beobachter:innen Wahlbetrug am Sonntag zu verhindern. Auch aus Deutschland reisten am Donnerstagabend Bundestagsabgeordnete im Auftrag des Europarates ein, um die Wahlen zu beobachten, darunter der Grüne Max Lucks und die Sozialdemokratin Derya Türk-Nachbaur.
Auch mehrere Prominente in der Türkei rufen dazu auf, Erdogan am Sonntag abzuwählen. „Ilk turda bitirelim“, schreiben sie: „Lasst es uns in der ersten Runde erledigen – ohne Stichwahl.“ Eine Angstbarriere scheint in der Türkei überwunden zu sein, egal, wie es am Sonntag aussieht. (Yağmur Ekim Çay)